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Im Reich der Wurmwörter

[Tagesanzeiger 2010-12-02]

Manche Pressestellen erfinden originellere Wörter als Lyriker. Wir stellen die Schönsten davon vor.

Von Beat Metzler

Willkommen zu diesem spontanlesenden und potenziell humorfähigen Text. Sie haben nichts verstanden? Dann geht es Ihnen wie Journalisten beim Durchsehen gewisser Pressemitteilungen, die von Wörtern überquellen, welche selbst der dickste Duden nicht kennt. Urheber der rätselhaften Buchstabenreihen sind gewisse Pressestellen, die origineller sprachschöpfen als jeder Lyriker. Allerdings nicht, um zu gefallen. Nein, die Behördenpoesie verfolgt handfestere Interessen. Sie soll vereinfachen oder verkomplizieren, verheimlichen, ablenken oder schonen. Oft quietschen die Neubildungen in den Ohren wie Löffel auf einem Pfannenboden. Trotzdem beissen sie sich in der Alltagssprache fest.

Der unkautfreie Leutschenpark in Zürich-Oerlikon

Als besonders verbalkreativ gilt die Sozialbranche. Aus Angst vor der Marginalisierung ihrer Klienten tauft sie psychisch Kranke in Menschen mit gravierender psychischer Beeinträchtigung ohne Krankheitseinsicht um. Heroinsüchtige heissen plötzlich suchtmittelkonsumierende, sozial desintegrierte Menschen, Arme verwandeln sich in Armuts-Betroffene. Dass Ausländer Menschen mit Migrationshintergrund oder Migrationserfahrung genannt werden, weiss heute jede bildungsferne, sozial beeinträchtigte Person. Und niederschwellige Angebote für randständige Menschen gehören langst zum Zürcher Alltag.

Solche Wurmwörter neigen dazu, sich unkontrolliert fortzupflanzen. Vielleicht erinnern Sie sich an den Hotelfall (dieses Wort haben übrigens die Medien verbrochen und ihm mit dem Spanienfall kurze Zeit später einen würdigen Bruder geschenkt)? Das Sozialdepartement zahlte 2005 einer Familie mit suchtmittelkonsumierenden Eltern ein Hotelzimmer, mit der Begründung, diese seien nicht wohnfähig. Zugegeben: Dieses Wort hat eine dumpfe Überzeugungskraft. Wohl deshalb hat es sich erfolgreich vermehrt: Mittlerweile sind Menschen nicht nur wohnfähig, sondern auch familienfähig oder ehefähig. Als nähere Verwandte sind die Adjektivmonster arbeitsmarktnah oder bildungsorientiert aufzulisten.

Keine Angst übrigens, dieser Text artet nicht zur SVP-nahen, aggressionsorientierten Diffamierung der politischen Korrektheit aus. Wortneuschöpfungen sind durchaus hilfreich, um abschätzige Namen wie Junkie, Penner oder Psycho zu meiden. Nur sollten sie bitte schön nicht so viel Platz verbrauchen. Zudem besteht die Gefahr, dass der gute Wille ins Zynische kippt. So bietet ein  Zürcher Altersheim Fingerfood für Demenzkranke an. Schein, denkt man. Offenbar dürfen auch Demente an den Errungenschaften der Trendgastronomie teilhaben. Doch diese Erklärung erweist sich als nicht wahrheitsfähig. «Fingerfood richtet sich an Menschen, die Mühe haben, mit Besteck umzugehen. Sie erhalten die Möglichkeit, mit den Fingern zu essen. Das erhöht die Selbstständigkeit.» Hier wird eine Mahlzeit, die aus Unfähigkeit mit den Händen gegessen wird, als Fingerfood bezeichnet. Das ist ähnlich gewagt, wie wenn man Armuts-Betroffene, die nur rohen Fisch zu beissen haben, als Sushi-Geniessende betitelte.

Noch weiter ins Absurde kriechen Wurmwörter, die schonen, wo es nichts und niemanden zu schonen gibt. Nennt man eine schlichte Aufnahmeprüfung plötzlich Potenzial- und Perspektivenerhebung, dann läuft die Wortbildung Amok. Weitere eingängige Beispiele stammen aus dem Pflanzenreich. Ohne die verschiedenen Vegetationstypen zu verunglimpfen, darf man ihnen unterstellen, dass sie resistent gegen menschliche Beschimpfungen sind. Trotzdem wurde der Begriff Unkraut kürzlich durch Spontanvegetation ersetzt. Viel giftiger klingt dagegen Problemkraut. Nein, damit ist nicht Indoor-Hanf gemeint, sondern Disteln und Winden, die an raumprägenden, raumgliedernden, standtortgerechten Schattenspendern (= Bäume) oder an formgeschnittenen, linearen, laubwerfenden Grünelementen (= Hecken) hochklettern.

Spontanvegetation und Problemkraut befinden sich tatsachlich in der gleichen Publikation. Warum man Problemkraut sagen darf, Unkraut aber verpönt ist, bleibt ein Rätsel. Oder könnten Sie sich entscheiden, ob Sie lieber ein Unmensch oder ein Problemmensch waren?

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 URL:  Created: 2010-12-02  Updated:
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