Rechtschreibreform bleibt Baustelle
Siehe auch www.rechtschreibreform.com
Böcke wollen Gärtner werden
50 Professoren wollen alte Rechtschreibung
Rechtschreibreform: neue Vorschläge
Strittig oder unstrittig - Neues von der Rechtschreibreform
Rechts-Schreibung?
Kritik an Reform der Rechtschreibreform
Änderungen abgesegnet (Reform der Reform)
Die reformierte reform
Duden war gegen Grossschreibung
Böcke
zu Gärtnern
Die Böcke wollen Gärtner werden: So muss muss man wohl die jetzt bekannt gewordenen Ambitionen der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung kommentieren. Wenn am 31. Juli 2005 die Übergangsfrist endet, welche der Umstellung von alter auf reformierte Orthographie eingeräumt worden war, dann soll nicht nur das missratene und bereits stillschweigend modifizierte Reformwerk in Schulen und Amtsstuben endgültig verbindlich sein. Obendrein wünscht sich die Kommission grössere Machtfülle. Bis anhin besass sie für Korrekturen am Regelwerk nur ein Vorschlagsrecht, nun aber soll ihr die Politik die Kompetenz für Regeländerungen übertragen. Eine entsprechende Forderung ist der von den Kultusministern eingesetzten Amtschefkommission "Rechtschreibung" zugegangen. Die Amtschefs, die morgen tagen, haben bereits Zustimmung signalisiert. Ihrer Empfehlung wird die deutsche Kultusministerkonferenz im März umso lieber folgen, als die Politiker heilfroh sind, die Verantwortung für die Reform, die ihnen nur Ansehensverlust beschert, loszuwerden.
Dass die Politik die Finger von orthographischen Problemen lässt, ist zweifellos zu begrüssen. Ob es überhaupt eine zentrale Instanz braucht, die mit jener Autorität ausgerüstet ist, wie sie früher die Redaktion des Dudens besass - und in der Schweiz ja noch immer besitzt -, ist strittig. Man kann der Ansicht sein, dass die Rechtschreibung um der Schüler und der Lehrer willen nicht einfach der Entscheidung konkurrierender Wörterbücher überlassen sein dürfe. Dass es einen für alle sprachlichen Zweifelsfälle massgeblichen Schiedsrichter geben müsse. Mag sein, dass sich nach dem Ende des Duden-Privilegs für diese Rolle eine unabhängige Kommission geradezu anbietet. Aber eines ist sicher: Die amtierende Reformkommission taugt dazu nicht. Sie ist hoffnungslos fehlbesetzt. Ihre zwölf Mitglieder - sechs aus Deutschland und jeweils drei aus Österreich und der Schweiz - sind sämtlich Sprachwissenschafter und Didaktiker. Nach dem Austritt von Peter Eisenberg findet sich nicht einmal mehr ein Grammatiker in ihren Reihen.
Die Abwesenheit von Vertretern der schreibenden Zunft und der Mangel an grammatischer Kompetenz schlägt sich sowohl im 1996 beschlossenen Reformwerk wie auch in den Berichten nieder, welche die Kommission in der Übergangsphase vorzulegen gehalten ist. Diese Berichte über den Gang der Reform und die verstohlene Tilgung ihrer Ungereimtheiten gelangen stets nur durch Indiskretion in die Öffentlichkeit; sie sind geheim, und das mit gutem Grund. Auch der jetzt kursierende vierte Bericht strotzt wieder vor Kuriositäten. Er ist der letzte vor dem Ende der Übergangszeit und darum für die künftig verbindliche Fassung der Reform massgeblich.
Geht es nach diesem Bericht, so soll es dabei bleiben, dass wir "gräulich" schreiben, obwohl wir "greulich" meinen. Die sogenannten volksetymologischen Schreibungen wie "einbläuen" oder "schnäuzen" werden weder zurückgenommen noch durch die früher üblichen ergänzt. Bei der Zeichensetzung und der Silbentrennung sehen die Reformer ebenfalls keinen Änderungsbedarf. Dafür ist bei festen Begriffen wie "Schwarzes Brett" und "Erste Hilfe" wieder die Grossschreibung erlaubt. Auf dem heiss umkämpften Feld der Getrennt- und Zusammenschreibung macht die Kommission etliche Rückzieher: Zum Beispiel dürfen zuvor getrennte Formen wie "zufriedenstellend, kleingedruckt, alleinstehend" jetzt wieder wie einst zusammengeschrieben werden.
Neben solcher Einsicht beweisen die Reformer aber auch hartnäckiges Unvermögen. Ihre stille Maxime, entweder gross und getrennt oder klein und zusammen zu schreiben, wirkt fort. Erlaubt ist so beispielsweise neben der Neuschöpfung "Leid tun" auch die Schreibung "leidtun" - nicht aber die grammatisch richtige: leid tun. Auch das schiefe "Pleite gehen" bleibt in Kraft. "Durch die Änderungen werden bisherige Schreibweisen nicht falsch", verkündet der Reformbericht. Lakonisch kommentiert der Reformkritiker Theodor Ickler: "Wohl aber werden falsche richtig." Reine Augenwischerei ist es, wenn die Kommission ihre zum Teil gravierenden Änderungen als schlichte "Präzisierungen" verkaufen möchte. Die Auflösung oder zumindest Neubesetzung dieses Gremiums tut not. Es hingegen durch Machtzuwachs zu adeln, wäre ein Witz.
[Joachim Güntner, 727948, NZZ , 2005-02-04]
50
Professoren wollen alte Rechtschreibung
In einem Appell an die Parlamente in der Schweiz, Deutschland und Österreich fordern 50 Professoren die Rückkehr zur alten Rechtschreibung. Darin halten sie fest, dass die Rechtschreibreform schwer wiegende Mängel aufweise. Die jüngst vorgeschlagenen zusätzlichen Änderungen vergrösserten das bereits angerichtete Chaos. Zudem «könne von den Menschen erwartet werden, dass eine kompliziertere Rechtschreibung beizubehalten sei, wenn sie zum Kulturgut gehört», sagte Manfred Rehbinder, Professor an der Universität Zürich.
Die Professoren, überwiegend renommierte Rechtswissenschaftler, beklagen gravierende Mängel, die die Einheitlichkeit der deutschen Schriftsprache zerstörten und die Aussagekraft und Ausdrucksvielfalt der Sprache gefährdeten. Zudem würden die neuen Regeln vom überwiegenden Teil der Sprachgemeinschaft nicht akzeptiert. In öffentlichen Publikationen häuften sich unterschiedliche Schreibweisen, aber auch Fehler. Konsequenz könne daher nur die Rückkehr zur alten Rechtschreibung sein. (SDA)
[Tagesanzeiger 2004-02-17]
Rechtschreibreform:
Neue Vorschläge
München, - Der Rat für deutsche Rechtschreibung hat sich mit dem Problem der zusammengesetzten Verben befasst und für eine Neuregelung plädiert. Die in der Rechtschreibreform eingeführte Getrenntschreibung solle korrigiert werden: Verben wie «fertig stellen» oder «Eis laufen» mit idiomatisierter Gesamtbedeutung» sollen künftig wieder zusammengegchrieben werden. Einen formellen Beschluss hat das Gremium noch nicht gefasst, es ist sich in vielen Detailfragen noch nicht einig. Es stellt einen solchen Beschluss aber für Juni 2005 in Aussicht. Dann wird sich die deutsche Kultusministerkonferenz damit befassen. Der Rat für deutsche Rechtschreibung ist ein beratendes Gremium, das sich mit Problemfällen befasst und nur Empfehlungen geben kann. Am 1. August 2005 soll die 1998 eingeführte Orthografiereform verbindlich gelten.
[Tagesanzeiger 2005-04-12]
Strittig
oder unstrittig - Neues von der Rechtschreibreform
Zweierlei Nachrichten zur Rechtschreibreform, eine wissenschaftliche und eine politische, bescherte uns die zurückliegende Woche: So hat der Rat für Rechtschreibung in Mannheim, in welchem mit neun Fachleuten auch die Schweiz vertreten ist, die Rechtschreibreform in einem wesentlichen Punkt zurückgenommen. Am Freitag segnete das Gremium mit grosser Mehrheit eine revidierte Fassung der Regeln zur Getrennt- und Zusammenschreibung ab. Betroffen sind zunächst Wortzusammensetzungen mit Verben am Ende, die nun wieder erlaubt sind und nicht länger getrennt werden müssen. Wir dürfen also wieder anstandslos "kennenlernen", "spazierengehen" oder "eislaufen". Wer als beinharter Reformer den Neuschrieb vorzieht und auf der Trennung der Komposita beharrt - bitte schön, auch gut.
Die Politik schafft Fakten
So weit, so liberal. Die Reformgegner könnten triumphieren über die wieder ins Recht gesetzte Zusammenschreibung, die ja besonders bei Wörtern mit übertragener Bedeutung erwünscht ist, man denke an "sitzenbleiben" vs. "sitzen bleiben". Grösser jedoch als die Freude ist die Wut vieler Reformkritiker über die Politik. Einen "babylonischen Irrsinn" schimpfen sie die am Donnerstag ergangene Entscheidung der deutschen Kultusministerkonferenz (KMK), zum 1. August einen Teil der Rechtschreibreform bereits in Kraft zu setzen, während andere Teile noch überarbeitet werden. Die Verantwortlichen in Österreich und in der Schweiz haben diesem Vorgehen im Vorfeld zugestimmt, auch wenn sie jetzt erklären, beschlossen sei noch nichts. Ob es aber klug ist, die Schüler weiter einer Hängepartie auszusetzen?
Die Politik kann das Tricksen nicht lassen. Erst übte sie sich in einer vertrauensbildenden Massnahme und ersetzte die internationale Kommission, welche die Rechtschreibreform ausgetüftelt hatte und dafür heftig befehdet worden war, durch den eingangs erwähnten Rat für Rechtschreibung. Der pluralistisch besetzte Rat soll Kritiker einbinden, Vorschläge zur Verbesserung des an vielen Stellen missratenen Regelwerks erarbeiten und so für grössere Akzeptanz der Reform sorgen. Ein kluger Schachzug, wie es schien, diktiert von der Einsicht, dass sich eine von oben verordnete Änderung der Schreibweisen nicht gegen massive Widerstände und erst recht nicht gegen Sprachlogik und Grammatik durchsetzen lässt.
Wer aber glaubte, die Kulturpolitiker würden fortan orthographische Probleme allein dem dafür eingesetzten Rat und damit jenen überlassen, die als Wissenschafter, Schriftsteller und Lehrer mehr davon verstehen, sieht sich spätestens jetzt enttäuscht. Statt abzuwarten, wo überall der Rat auf Änderungen am Reformwerk drängt oder künftig drängen wird, schafft die Politik Fakten. Sie wünscht weder eine Totalrevision der neuen Schreibungen noch ein Moratorium bei der verbindlichen Umsetzung der Rechtschreibregeln in Verwaltungen und Schulen. Darum hat sie eine Definition vorgenommen und die Reform in "strittige" und "unstrittige" Teile zerlegt. Strittig sind danach bloss jene Bereiche, für die der Rechtschreib-Rat bereits Arbeitsgruppen eingerichtet hat: die Silbentrennung, die Zeichensetzung und natürlich die Getrennt- und Zusammenschreibung, das mit Abstand heisseste Eisen der Reform.
"Toleranzklausel"
Für diese Bereiche soll einstweilen eine "Toleranzklausel" gelten, die es den Schülern erlaubt, die alten, traditionellen Schreibungen zu benützen, ohne dass dies auf die Benotung durchschlägt. Abweichungen von der reformierten Schreibung werden zwar markiert, aber nicht als Fehler gewertet. Anders hingegen bei den angeblich "unstrittigen" Gebieten: der Gross- und Kleinschreibung, der Bildung von Bindestrich-Wörtern und der Laut-Buchstaben-Zuordnung (die uns z. B. die Austreibung des ph durch das f beschert hat "Delfin" oder auch drei aufeinander folgende Konsonanten wie in "Betttuch"). Für diese "unstrittigen" Regeln endet die Übergangsfrist wie 1996 geplant. Sieht ein Lehrer, dass auch nach dem 31. Juli 2005 ein Schüler von ihnen abweicht, so muss er den Verstoss als Fehler anstreichen.
Es wird schwer sein, diese Festlegung, welche ausgewählte Teile der Reform von Revisionen ausnehmen soll, noch einmal zu kippen. Die KMK hat zu verstehen gegeben, sie wünsche vom Rat in Mannheim keine Änderungsvorschläge zu hören. Der Rat jedoch, dem nun auch die zuvor widerspenstige Deutsche Akademie für Sprache und Literatur beigetreten ist, will sich nicht an die Kandare nehmen lassen. Gerade auf dem Feld der Gross- und Kleinschreibung gibt es reichlich Korrekturbedarf.
Güntner Joachim
[831017, NZZ am Sonntag 2005-06-05]
Rechts-Schreibung?
Österreichische Autoren wettern gegen die Rechtschreibreform
Gerade noch: Vier Tage bevor am 1. August die Rechtschreibreform an Schulen und Behörden Deutschlands, Österreichs und der Schweiz verbindlich wird, legt eine illustre Runde österreichischer Schriftsteller Protest ein. Friederike Mayröcker, Elfriede Jelinek, Gert Jonke, Julian Schutting und Marlene Streeruwitz fordern einen Aufschub der Reform. "Schluss mit staatlichen Schreibregelverordnungen", heisst es im Manifest. Gefordert werden "Massnahmen, die den sprachlichen Reichtum der von der Vereinheitlichung betroffenen Länder gewährleisten".
Als Anlass zum Protest dient ein Buch, das die Wiener Schule für Dichtung jetzt ausgegraben hat, obwohl es keineswegs verschollen war. 2000 erstmals erschienen und 2004 neu aufgelegt, stammt der Band "Rechtschreibreform und Nationalsozialismus" immerhin direkt aus der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Die beiden Autoren, Hanno Birken-Bertsch und Reinhard Markner, erläuterten am Freitag in Wien noch einmal die Kontinuitäten zwischen den NS-Reformbestrebungen, die 1944 mangels Kriegswichtigkeit eingestellt wurden, und den gegenwärtigen Neuerungen der Rechtschreibung.
Da wie dort habe man den Hebel bei der Schulorthographie angesetzt, und man habe bei der Schreibung gleichermassen pseudoetymologisch argumentiert. Schon in den dreissiger Jahren wollte man auf den "Oralprimat" (Hanno Birken-Bertsch) pochen. Die zeichnenden österreichischen Autoren geben es schriftlich und in acht Punkten. "Schluss! Aus! Ende! Finito!" heisst ihr Manifest, dessen praktische Einwände die Skandalisierung wohl gar nicht gebraucht hätten. Für diese wollten sich dann auch die beiden deutschen Wissenschafter nicht hergeben. Auch wenn die NS-Ideen zur Rechtschreibung bisher kaum wissenschaftlich aufgearbeitet sind - die Geschichte, sagt Hanno Birken-Bertsch, habe schlimmere Leichen im Keller.
P. Jandl
[842146, NZZ 2005-07-30]
Kritik
an Reform der Rechtschreibreform
Die im deutschen Sprachraum unterschiedlich scharf kritisierte Rechtschreibreform kommt auch in der Phase der offiziellen Nachbesserung nicht aus den Schlagzeilen. Wichtige in den Reformprozess involvierte schweizerische Institutionen wie etwa der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) oder der Sprachkreis Deutsch (SKD) melden in Vernehmlassungsantworten nicht nur bezüglich der Inhalte der Nachbesserung schwere Bedenken an. Sie kritisieren auch die angebliche Arroganz und Dominanz des federführenden Rats für deutsche Rechtschreibung (RfdR), der von der deutschen Kultusministerkonferenz als Koordinationsorgan bei der Überarbeitung der Reform eingesetzt wurde. Im 38-köpfigen Rat sitzen 18 Vertreter aus Deutschland, je 9 aus Österreich und der Schweiz, je einer aus Liechtenstein und Südtirol und demnächst noch ein Mitglied aus Deutsch-Belgien.
Vernehmlassung nur über Weihnachten
In seiner Stellungnahme kritisiert der LCH zum einen die viel zu knapp bemessene
Vernehmlassungsfrist - sie wurde vom RfdR nur über die Festtage angesetzt
- und kritisiert schärfstens, die Schweizer Delegation sei in den bisher
7 Sitzungen vom RfdR-Vorsitzenden häufig gemassregelt worden. Anträge
der Delegation bezüglich Strukturierung einer Projektarbeit, die diesen
Namen verdient hätte, seien fortgesetzt ignoriert, kleingeredet oder überstimmt
worden. Daher und weil die Reformvorschläge des RfdR elementare Erwartungen
der Schulen nicht erfüllten, verlangt der LCH, dass die Pflege der Rechtschreibung
grundlegend neu und professionell geordnet werde und legt der Erziehungsdirektorenkonferenz
(EDK) gar nahe, in der Rechtschreibfrage die Geschäftsbeziehungen zur
deutschen Kultusministerkonferenz zu überprüfen.
Diese gegenüber dem ursprünglichen Placet zur Reform jetzt erfolgte
Verweigerung des LCH ist brisant, denn letztlich ist die Schule die wichtigste
Institution beim Umsetzen neuer Reformänderungen. EDK-Präsident
Ulrich Stöckling erhält zudem weitere Post in Form eines offenen
Briefes. Absender ist der Sprachkreis Deutsch, zusammen mit Mitunterzeichnern
wie Peter Müller, Direktor Marketing & Informatik der Schweizerischen
Depeschenagentur (SDA), Men Haupt, Präsident des Buchhändler- und
Verlegerverbandes, oder auch Filippo Leutenegger, Nationalrat und CEO der
Jean Frey AG.
Marschhalt gefordert
Im Brief wird der EDK-Präsident darauf hingewiesen, die deutschen Kultusminister hätten eingestanden, "dass die Rechtschreibreform falsch war" (Erste Ausgabe 2006 des "Spiegels"). Die Unterzeichner erinnern auch an die verursachten und anstehenden Kosten der Reform und verlangen einen Marschhalt. Sie fordern von der EDK eine längere Vernehmlassung zu den Ratsempfehlungen, die wissenschaftliche Überprüfung des ganzen Regelwerks, die Auswechslung der Schweizer Delegation im RfdR und ein Moratorium, wie es der Kanton Bern verfügt hat. Die Absichtserklärung, die die Schweiz 1996 unterzeichnet habe, verpflichte zu nichts. EDK-Generalsekretär Hans Ambühl, ebenfalls Mitglied der Schweizer Delegation, zeigte gegenüber der NZZ ein gewisses Verständnis für die Kritik. Auch er erachtet die von der Kultusministerkonferenz angesetzte Vernehmlassungsfrist als viel zu kurz und bedauert sehr, dass seit Einsetzung des RfdR die Rechtschreibreform stark verpolitisiert worden sei, was Sachlichkeit erschwere. Er kritisiert auch, dass die nun geplanten Anpassungen vom ursprünglich geplanten vereinfachten Regelwerk wegführten und die Schule zwingen würden, fast nur noch Einzelfälle und Ausnahmen zu lehren.
Sorge der EDK
Dass indes kleine Länder wie die Schweiz oder Österreich noch den nötigen Druck auf die deutsche Kultusministerkonferenz aufbauen können, bezweifelt Ambühl. Die Sorge ist begründet. Bereits Anfang März möchte die Kultusministerkonferenz die umstrittene Reform der Reform definitiv verabschieden.
W. Hagenbüchle
[879691, NZZ 2006-01-25]
Änderungen
abgesegnet
Die Kultusministerkonferenz folgt dem Rechtschreib-Rat
Die deutsche Kultusministerkonferenz hat am Donnerstag einvernehmlich beschlossen, den Empfehlungen des Rats für deutsche Rechtschreibung zu folgen und das Reformwerk nach seinen Vorgaben zu ändern. Damit erfährt die bereits mehrfach modifizierte «Wiener Erklärung» von 1996 eine weitere Dekonstruktion; ob es ihre letzte ist, bleibt abzuwarten. Die mit der Reform aufgewachsenen Schüler müssen umlernen; dass sie dies begrüssen, darf man bezweifeln. Auch ist an eine vollständige Beilegung des Rechtschreibestreits nicht zu denken. Immerhin konzedieren selbst Verfechter einer konsequenten Rückkehr zum alten Usus, dass der nun vorliegende Kompromiss zahlreiche grobe Verstösse gegen die Sprachlogik tilgt. Dass stehende Begriffe wie «Schwarzes Brett» oder das vertrauliche «Du» in Briefen wieder gross geschrieben werden, dass bei der Silbentrennung keine einsamen Einzelbuchstaben mehr am Zeilenende stehen dürfen und dass man Wörter, zumal zwecks Kennzeichnung einer übertragenen Bedeutung, wieder wie einst zusammenschreiben darf, könnte manches erzürnte Gemüt beruhigen.
Vorbehaltlich der Zustimmung der Ministerpräsidenten der Bundesländer soll die neue Regelung am kommenden 1. August in allen deutschen Schulen verbindlich werden. Für dadurch überholte Schreibweisen gelte eine Übergangsfrist von einem Jahr, in welcher sie nicht als Fehler zu werten seien. Bei Zweifelsfällen habe man sich - Bertelsmann und Duden-Verlag werden es mit Freude vernehmen - an aktualisierte Wörterbücher zu halten. Von Schulbüchern heisst es, sie könnten weiter benutzt werden und würden «im üblichen Erneuerungsturnus ausgetauscht». Noch fraglich ist, inwieweit jene Zeitungen, die vor Jahren enttäuscht zur alten Rechtschreibung zurückkehrt sind, den jetzt propagierten Regeln folgen werden, um das oft düster vermerkte «Rechtschreib-Schisma» zu beenden. Einige verhalten positive Signale legen eine solche Wende nahe.
In der Schweiz haben sich zuletzt vor allem der Lehrerdachverband (LCH) und der Sprachkreis Deutsch in Opposition zum Rechtschreib-Rat und seiner Arbeit begeben. Den Pädagogen sind die zahlreichen alternativen Schreibungen ein Dorn im Auge. Die Varianten-Freiheit, welche der Rat gewähre, mache die Regelung der Orthographie komplizierter und höhle ihre «Zuverlässigkeit und Autorität» aus. Hans Ulrich Stöckling, Präsident der schweizerischen Erziehungsdirektorenkonferenz, widerspricht dem Verlangen des LCH, besser die gesamte Reform noch einmal gründlich aufzurollen, statt an ihr herumzudoktern. Bei aller Toleranz gegenüber der Freiheit des Bürgers in Sachen Rechtschreibung jedoch meint auch er: «Für die Schule muss man rekurssicher sein.» Anders als der LCH hält Stöckling die Empfehlungen des Rates für akzeptabel. Er stelle sich vor, sagte er gegenüber der NZZ, die Schreibungen als Alternativen zuzulassen und am Ende einer Übergangsfrist über ihre Verbindlichkeit zu entscheiden. Allerdings sollte ein solcher Beschluss «nicht ohne ordentliche Vernehmlassung» gefasst werden. Eine Marschroute, wie die Schweiz mit dem Entscheid der deutschen Kultusminister verfahren will, werden die kantonalen Erziehungsdirektoren bei ihrer turnusgemässen Zusammenkunft am kommenden Donnerstag beraten.
Joachim Güntner
[NZZ 2006-03-04]
Die
reformierte reform
Orthographische Eintracht
Der Rat für deutsche Rechtschreibung hat für Remedur gesorgt und viele alte Schreibweisen wieder ins Recht gesetzt, die Reform der Reform ist im Wesentlichen abgeschlossen, die Politik hat dazu ihren Segen gegeben, die Lehrer müssen das Beschlossene lehren - und jetzt schwenkt auch die «FAZ» auf die allgemeine Linie der amtlichen Rechtschreibung ein. Die Reformgegner in Deutschland verlieren damit ihre wichtigste Bastion. Die «Süddeutsche Zeitung» («SZ») und die Blätter des Axel-Springer-Verlags praktizieren die neuen Regeln bereits.
Alle drei Pressehäuser hatten anfangs die reformierte Orthographie eingeführt, störten sich an deren Ungereimtheiten jedoch so sehr, dass sie zur traditionellen Schreibung zurückkehrten. («Der Spiegel» kündigte ebenfalls eine Rückkehr an, beliess es dann aber bei Lippenbekenntnis sen.) In der vom Rechtschreibrat neu gefassten Reformschreibung sehen sie einen akzeptablen Kompromiss und folgen künftig einer Maxime, die übrigens auch in der NZZ gilt: Wo die amt liche Orthographie die Wahl zwischen alter und neuer Schreibweise lässt, erhält die herkömm liche Variante den Vorzug. In strikter Opposition verharrt man nur bei einigen als sinnwidrig erach teten Schreibungen, hier gelten jeweils haus-interne orthographische Vorschriften. Die «FAZ» wird mit Beginn nächsten Jahres ihre Texte in amtlicher Rechtschreibung drucken, die deutsch sprachigen Nachrichtenagenturen lassen sich mit der Umstellung noch Zeit bis zum 1. August 2007.
Joachim Güntner
[NZZ 2006-12-06]
Duden
war gegen Grossschreibung
Neue Rechtschreibung: Gegner warnen vor Chaos an Schulen, TA vom 27. 6./ Neue Rechtschreibung: Politik soil Notbremse ziehen, TA vom 27.6.
Ab dem 1. August soil die Rechtschreibreform endgultig an den Schulen eingefiihrt werden. Dass wir Schweizer vor dem Gesslerhut der Rechtschreibdiktatoren demiltig zu Boden kriechen, zeugt nicht gerade von eigener Urteilsfahigkeit. Bei dieser «Reform» ist nicht einmal die in alien nicht Deutsch sprechenden Staaten Europas iibliche Substantiv-Kleinschreibung zustande gekommen. Diese ware far uns Schweizer ein Gebot der Stunde gewesen, da in den eigenen Landesteilen, in welchen Franzosisch und Italienisch gesprochen wird, die Substantiv-Kleinschreibung zur taglichen Gewohnheit zahlt.
Konrad Duden, dessen Rechtschreibregeln wir angeblich praktizieren, war, wie auch der Begriinder der Germanistik, Jacob Grimm, ein entschiedener Gegner der Grossschreibung. Der Schuldirektor und Kinderfreund Duden klagte 1908 Aber den Unsinn unserer Rechtschreibung: «Sie schadigt durch nutzlose Gedachtnisbelasrung die geistige und leibliche Gesundheit unserer Jugend, indem sie der Schule kostbare Zeit und dem Kinde Lust und Freude am Lernen raubt. Sie wirkt verdummend, indem sie unter Kraftvergeudung Verstand und Gedachtnis zu gegenseitigem Kampf zwingt.»
Konrad Duden hat in seinen Schriften «Die deutsche Rechtschreibung» (1872) und «Die Zukunftsorthographie» (1876) seine von ihm angestrebten Regeln, basierend auf dem phonologischen Prinzip, dargelegt. Als Vorbild dienten ihm vor allem die Italiener. Diese schreiben zum Beispiel: teatro, tema, ritmo, filosofia und nazione. Wir hingegen halters immer noch an den alten Zopien fest und schreiben: Theater, Thema, Rhythmus, Philosophie und Nation.
Eine allerletzte Gelegenheit, uns und die Schulkinder von dem Ballast der verrosteten aiten Rechtschreibung zu befreien, bietet sich durch einen mehrheitlichen Einspruch der Parlamentarierinnen. Werden diese sich ihrer Verantwortung bewusst sein und durch ihre Ablehnung dieser jugendfeindlichen Rechtschreibreform ein klares Nein entgegensetzen?
Claudius Schauffler, Steffisburg [Leserbrief, Tagesanzeiger 2009-07-22]