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Das imaginäre Verbrechen ist zurück

Jesus darf verspottet werden und Buddha ebenso. Beim Islam aber scheinen andere Regeln zu gelten

Pascal Bruckner

Schattenbild eines gesprächs auf der treppe

Stifte am Zaun der französischen Botschaft in Madrid erinnern an die Opfer der Terrorattacke auf «Charlie Hebdo» vom Januar 2015. [Pablo Blazquez Dominguez / Getty]

Seit September läuft der Prozess gegen die Komplizen der Attentäter, die vor fünfeinhalb Jahren die Redaktoren von «Charlie Hebdo» ermordeten. Am 25. September ist es zu einer neuen Attacke gekommen: Um den «Propheten zu rächen», hat ein 18-jähriger pakistanischer Flüchtling zwei Personen mit einem Hackbeil schwer verletzt, sich aber in der Adresse geirrt – «Wir sind umgezogen, ihr Idioten», hat «Charlie» daraufhin getitelt. Angesichts dieses Vorfalls und im Rahmen des Prozesses muss man sich einmal ein paar grundsätzliche Fragen stellen: Haben die Islamisten eigentlich gewonnen? Und erleben wir unter dem Deckmantel des Antirassismus die Rückkehr der religiösen Zensur?

Vielleicht sollte man sich zuerst einige Fakten in Erinnerung rufen, die Frankreich prägen. Das Delikt «Blasphemie» ist hierzulande im Jahr 1791 abgeschafft worden. Zuvor hat es über drei Jahrhunderte hinweg eine grosse Rolle gespielt und im Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten für unendliche Mengen vergossenen Bluts gesorgt. Ganz allgemein wurden die «Sünden des Mundes», die die soziale und kosmische Ordnung infrage stellten, im Europa des Ancien Régime oft mit dem Abschneiden der Zunge bestraft, mit dem Zunähen der Lippen oder gar mit dem Tod.

Louis-Michel Lepeletier de Saint-Fargeau, ein Mitglied des Konvents, hat 1791 am Projekt für ein Strafgesetzbuch gearbeitet und die Dinge dabei mit grosser Klarheit beschrieben. Es sei Zeit, schrieb er, dass die Masse an «imaginären Verbrechen» verschwinde, die die früheren Gesetzbücher aufgebläht habe. Im neuen «code pénal» sollten, wie er festhielt, Verbrechen wie Häresie oder göttliche Majestätsbeleidigung nicht mehr vorkommen, dieser ganze Zauber, um dessentwillen im Namen des Himmels die Erde mit so viel Blut durchtränkt werde. Die Restauration setzte später dann zwar wieder ein Gesetz gegen «Sakrilege» ein, es war aber vor allem dazu bestimmt, die Presse zu knebeln, und wurde 1881 schliesslich definitiv abgeschafft.

Man könnte Lepeletiers Worte heute für Selbstverständlichkeiten halten. Und tatsächlich wäre es unnötig, sie noch zu erwähnen, wenn sich nicht allzu viele aufklärungsfeindliche Kräfte, angeführt von Juristen oder Theologen aus der Türkei, Ägypten oder Iran, bemühten, gemeinsam mit der extremen Linken das Delikt der Blasphemie wiederaufleben zu lassen. Was ist passiert, dass das «imaginäre Verbrechen» wieder aktuell werden konnte? Wie haben wir es geschafft, neue Meinungsdelikte entstehen zu lassen?

Vom Anklagen zum Töten

Beginnen wir grundlegend. In unseren multikulturellen Gesellschaften ist die Beleidigung von Minderheiten und Personen per Gesetz verboten. Das ist ein Fortschritt und ein Teil derjenigen Werte, die konstitutiv sind für unser Selbstverständnis. Rassistische Äusserungen und Hassreden sind untersagt, und es ist gut, dass keiner lauthals zur Tötung von Juden, Arabern, Schwarzen, Maghrebinern oder Weissen aufrufen darf. Kehrseite dieses Fortschritts: Um zu vermeiden, dass man unter den Hammer des Gesetzes kommt, muss man die neutralen Vokabeln des politisch Korrekten verwenden.

Natürlich sollte einen feinen Sinn für Zwischentöne besitzen, wer Minderheiten oder Konfessionen charakterisieren will. Aber wenn man diese Vorsicht überstrapaziert und auf die Erzeugnisse der menschlichen Kultur ausdehnt, wenn man in diesem Bereich a priori jede Kritik an einem System oder einem Glauben verbietet, dann läuft man Gefahr, die Freiheit des Denkens zu amputieren.

Diverse fundamentalistische Vereinigungen haben mit dieser Ausdehnung gespielt und kulturelle Produkte kriminalisiert. So haben zum Beispiel Katholiken mehrfach Filmemacher vor Gericht gezerrt, weil sie deren Werke für diffamierend hielten («Maria und Joseph» von Jean-Luc Godard, 1985, «Die letzte Versuchung Christi» von Martin Scorsese, 1988, oder «Larry Flynt» von Milos Forman, 1996). Diesem Vorgehen gegen den «Frevel» fügt der radikale Islam aber eine neue, entscheidende Note hinzu: Er klagt die Menschen nicht an, er tötet sie. All das, was zum aufklärerischen Geist gehörte, sei es Kritik, Spott oder der antiklerikale Diskurs – all das kann somit auf blutige Weise bestraft werden.

Um die zum Teil recht milde Reaktion auf diesen Umstand zu verstehen, muss man wissen, dass vor einiger Zeit ein Wunder geschehen ist: Religion ist zur Rasse geworden. Vielerorts werden Muslime heute als unterdrückte Minderheit gesehen. Der Soziologe Emmanuel Todd zum Beispiel hat einige Monate nach dem Attentat auf «Charlie» geschrieben: «Eine wiederholte systematische Blasphemie, die sich gegen Mohammed, die zentrale Figur der Religion einer schwachen und diskriminierten Gruppe, richtet, müsste unabhängig von dem, was die Gerichte meinen, als das bewertet werden, was sie ist: als Aufstachelung zum religiösen, ethnischen oder rassistischen Hass.»

Eine bestimmte Linke, die aus dem Islam die Speerspitze im Kampf gegen den Kapitalismus machen möchte, sieht die wahren Schuldigen in denjenigen Journalisten, Karikaturisten und Intellektuellen, die ihre Freiheit dazu missbraucht haben, auf die «Religion der Unterdrückten» zu spucken.

Unterschiedliche Massstäbe

Das ist ein sehr seltsames Konzept. Bekanntlich umfasst eine grosse Religion wie der Islam oder das Christentum eine Vielfalt an Völkern und kann nicht mit einer Ethnie gleichgesetzt werden. Meines Wissens gehören überdies zahlreiche muslimische Länder zu den reichsten Regionen der Welt. Und wenn man grosse Religionen unsinnigerweise tatsächlich nach dem Lebensstandard ihrer Mitglieder beurteilen wollte, müsste man auch sagen, dass Millionen von Christen in Armut leben.

Aber die Religionen werden ja nicht mit gleichen Ellen gemessen. Im Zusammenhang mit «Charlie» brauchte man sich nur einmal die Zahlen anzuschauen, um ein klares Bild zu bekommen: «Le Monde» hat berechnet, dass Kritik gegen den Islam auf 1,3 Prozent aller Frontseiten von «Charlie Hebdo» vorkam – während das Christentum dreimal öfter ins Visier genommen wurde. Trotzdem hat Edwy Plenel, ein ehemaliger Trotzkist und jetzt Direktor der Internetzeitung «Mediapart», «Charlie» noch 2017 beschuldigt, einen «Krieg gegen die Muslime» zu führen.

Auch der Umstand, dass Michel Houellebecq von der Grossen Pariser Moschee vor Gericht gezogen werden konnte, sagt viel über den Zustand der Regression, in dem wir uns befinden. Gesagt hatte er Folgendes: «Die dümmste Religion ist immer noch der Islam. Wenn man den Koran liest, ist man erschlagen» – hätte die Aussage das Christentum, das Judentum oder den Buddhismus betroffen, hätte sie keinen mit der Wimper zucken lassen.

Es ist eine hervorragende Sache, dass wir uns heute in Frankreich über Jesus, den Papst und die Evangelien lustig machen können, ohne uns der geringsten Gefahr auszusetzen. Doch es ist bedenklich, dass Vertreter einer einzigen Religion, jener von Mohammed, den Status der Unberührbarkeit reklamieren und Leute mit dem Tod bedrohen, wenn sie sich ihrer Ordnung widersetzen. Eine Demokratie darf das nicht hinnehmen. Vielmehr muss sie sich dauernd der schwierigen Aufgabe stellen, die Religionsfreiheit genauso zu schützen wie die Freiheit, Religionen zu kritisieren. Einzig Gläubige zu unterdrücken oder sie an der Ausübung ihres Glaubens zu hindern, ist verboten.

Es bietet sich an, diesen Text auf einer versöhnlichen Note zu schliessen und die Würde und den Mut des neuen Rektors der Pariser Moschee zu loben. In einem Beitrag für den «Figaro» hat Chems-Eddine Hafiz kürzlich Folgendes geschrieben: «Möge ‹Charlie Hebdo› weiterhin schreiben und zeichnen, seine Kunst nutzen und leben. Möge das Drama, das die Zeitschrift, Polizisten und jüdische Mitbürger betroffen hat, der nationalen Gemeinschaft als Lehre dienen, vor allem aber auch denjenigen, die sich auf den Islam berufen, denjenigen, die sich als ‹Freunde der Muslime› sehen und die Verbrechen der Terroristen nicht klar verurteilen: Inwiefern hat die Ermordung der Zeichner die Sache der Muslime vorangebracht? Und wie können Zerstörung und Barbarei dem Bild des Islams dienen?»

Der Weg zur Toleranz ist noch weit, aber zwischen Menschen guten Willens ist noch nicht alles verloren.

Der Schriftsteller und Philosoph Pascal Bruckner lebt in Paris. Demnächst erscheint von ihm bei Grasset: «Un coupable presque parfait. La construction du bouc-émissaire blanc.» – Aus dem Französischen übersetzt von cmd.

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 URL:  Created:2020-10-21  Updated:
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