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Der Mensch, ein Esel

Die Dummheit scheint keine Grenzen zu kennen. Was könnte ihr noch Einhalt gebieten?

Wolfgang Sofsky

Schattenbild eines gesprächs auf der treppe

Capricho No. 37, «Si sabrá mas el discipulo?», von Francisco de Goya. Museo del Prado

Die kürzeste Kritik der Dummheit bietet ein Capricho Francisco de Goyas. Ein grosser Esel unterrichtet kleine Esel. «Ob der Schüler wohl mehr wissen wird?», lautet die Legende.

Wo Esel Esel unterrichten, kommt nur Eselei heraus, sei es in unteren, mittleren oder höheren Schulen. Von Generation zu Generation sorgen Esel für die Weitergabe der Dummheit. Zwar beteuern sie fortwährend, dem Fortschritt, dem Wissen, der Menschheit zu dienen. Goya wusste es besser. Für ihn war die Geschichte des Homo sapiens eine Geschichte der Eselei.

Wer über Dummheit redet oder gar andere derselben bezichtigt, setzt voraus, selbst nicht allzu einfältig zu sein. Er hält sich für klüger, wohlwissend, dass es gemeinhin für ein Zeichen von Dummheit gilt, sich für klug zu halten.

Womöglich reden deshalb so wenige von der Torheit. Sie tun so, als existiere sie gar nicht. Lieber äussern sich die unzähligen Schlauköpfe zur Weisheit, um von der Dummheit schweigen zu können. Wer über Torheit klug redet, zieht sogleich den Hass der Dummköpfe auf sich. Denn sie erkennen sich in dem, was ihnen vorgestellt wird.

Eselei ist zuerst eine Schwäche des Denkens und des Redens. Der begrenzte Wortschatz verbindet sich mit logischen Fehlern und kategorialen Irrtümern. Man beurteilt ästhetische Objekte allein nach moralischen Massstäben, identifiziert die Roman- oder Bühnenfigur mit der Autorin und beurteilt die Textqualität nach der Biografie des Verfassers.

Man verwechselt den grammatischen Genus mit dem biologischen Sexus und vermischt alles im «sozialen Geschlecht». Dabei hat weder der Hocker noch der Seufzer einen Penis. Man glaubt, mit der Beseitigung von Wörtern, Symbolen oder Statuen liessen sich unerwünschte gesellschaftliche Unterschiede einebnen. Man hält natürliche Katastrophen für göttliche oder menschliche Schuld und verfolgt in grossen Krisen die Aussenseiter, die Fremden und die Nachbarn.

Dabei ist die Eselei keineswegs mit Irrtum oder Unkenntnis in eins zu setzen. Wer weiss, dass er etwas nicht weiss, ist etwas klüger als derjenige, in dessen Weltsicht Hypothesen, Widerlegungen, Zweifel gar nicht erst vorkommen. Töricht ist jedoch umgekehrt der feste Glaube, durch zusätzliche Kenntnisse liesse sich konstitutionelle Begriffsstutzigkeit auflösen. Belehrung macht Esel kaum klüger.

Der Wirklichkeitssinn

Der Neigung zum Dogmatismus entspricht der Verlust des Wirklichkeitssinns. Die nüchterne, oft unspektakuläre Erkenntnis der Tatsachen ist dem Esel zuwider. Informationen nimmt er nur auf, soweit sie ihm zupass sind. Sein Urteil steht von vornherein fest. Erfahrung ersetzt er durch Wünschen, Hoffen, Glauben, Empören. Doch schwindet mit dem Defekt des Realitätssinns auch das Gefühl für das Mögliche und Machbare.

Zu den dümmlichsten Ideen der Gegenwart gehört die Vorstellung, es gebe überhaupt keine Tatsachen und Wahrheiten, sondern nur Meinungen, standortgebundene Vorurteile, relative Konstruktionen. Die Wirklichkeit verschwindet hinter einem Gewölk von Bildern und Vorstellungen. Sogar die blutende Wunde, die beim Anrennen des Kopfes gegen Eisenbeton entsteht, sei zuletzt nur eine Konstruktion. Dabei spürt der Verletzte nur zu gut, dass das Bild von der Wunde nicht die Wunde selbst ist.

Nicht weniger töricht ist freilich die Idee, missliebige Idiotien müssten von Amts wegen verboten werden. Damit begibt man sich auf das intellektuelle Niveau der Dummheit, die man bekämpft. Dreiste Beleidigungen sind zu ertragen. Sie fallen auf den Urheber zurück. Kluge Beleidigungen indes treffen mitunter, weil sie zutreffen. Wer aber die Rohheiten der Dummheit per Meldung und Dekret aus der Welt schaffen will, hat sich viel vorgenommen. Wer historische Tatsachen wie Massen- oder Völkermorde leugnet, ist ohnehin kein Fall für den Staatsanwalt, sondern für den Psychiater.

Die Welt ist nur ein Spiegel

Wem die Realität abhandenkommt, der muss sich mit sich selbst begnügen. Selbstsucht ist immer ein Zeichen von Eselei. Dummheit und Stolz wachsen bekanntlich auf einem Holz. Klugheit verlangt, von sich selbst abzusehen. Der Dummkopf ist ausserstande zur Demut des Schweigens, zur Gelassenheit, die sich etwas sagen lässt. Unanfechtbar scheinen ihm seine Überzeugungen und Fähigkeiten. Besserwisserei paart sich mit Selbstgerechtigkeit. Immerzu giert der Esel nach Beifall. In seinem Weltbild erblickt er immer nur sein Spiegelbild.

Unmittelbar wirkt sich Dummheit auf die moralische Ausstattung der Person aus. Mangels Sachkenntnis kann sich der Narr nur immerfort empören. Die Lautstärke der Entrüstung scheint negativ zu korrelieren mit der Belanglosigkeit des Vorfalls. Er fordert überall Gerechtigkeit, als ob es von Vorteil wäre, wenn jedermann erhielte, was er sich tatsächlich verdient habe. Er fordert Freiheit und meint, andere mit seinen Torheiten belästigen zu sollen.

Im Handeln zeigt sich die Dummheit oft roh, ohne Rücksicht und Verantwortung. Gewiss gibt es auch die verschreckte, ängstliche Torheit, die sich, ihren Makel ahnend, aus der Reserve wagt. Doch meist ist die Dummheit dreist, unverfroren, gemein. Da es dem Idioten an sozialem Sinn fehlt, ist er ausserstande, die Perspektive eines anderen zu übernehmen. Ihm fehlt die Phantasie über das, was er jenseits seiner Ellbogen anrichtet. Er kennt nur sich selbst. Kommt ihm jemand zu nahe, wird er sofort ausfällig, wird er wort- und handgreiflich.

In Gesellschaft fühlen sich die Esel besonders wohl. Je grösser ihre Zahl, desto überzeugender erscheint die Eselei. Je mehr Gläubige, desto glaubwürdiger der Glaube. Je stärker der Applaus, desto wahrer die Botschaft. Unter vielen gestatten sich Menschen alles, was sie sich allein womöglich untersagen würden. Über die Wahrheit entscheidet die grosse Zahl, auch wenn nichts, aber auch gar nichts den Tatsachen entspricht. In der Konsensgemeinschaft der Rechtgläubigen gilt es als Straftat, anderer Meinung zu sein.

Gerede und Geschreibsel

Das Medium sozialer Dummheit ist das Gerede und das Geschreibsel. Gerede, die Diskursform der Torheit, ergibt sich aus dem ungeprüften Nach- und Weiterreden des Immergleichen. Gehörtes wird einfach weitergetragen. Dummheit spricht immer viel, vor allem von sich. Sie urteilt bestimmt und über alles. Immer weitere Kreise zieht das Gerede und erhält dadurch autoritativen Charakter. Die Sache ist so, weil alle es sagen.

Geschreibsel entsteht, wenn andere weiterschreiben, was jemand vorgeschrieben hat. Es speist sich aus dem Angelesenen. Bodenlos schwebt so das Gerede über der Welt. Nicht Lüge ist die Quelle des Geredes, sondern die Selbsttäuschung, alles längst schon verstanden zu haben. Gerede entbindet von jedem Nachdenken über die Worthülsen und leeren Diskurse. Es erzeugt ein Klima einfältigen Einverständnisses, dem nichts mehr verschlossen scheint und an dem jeder teilhaben zu können glaubt.

Ob in sozialen Netzwerken, Talkshows, Kommentarspalten, Presseerklärungen, Werbekampagnen, Wahlkämpfen – die Foren der Dummheit sind gigantisch. Ganze Industrien leben von der Leichtgläubigkeit des Publikums: die Hersteller von Zuckerpillen ohne Wirkstoff, von Lebensmitteln ohne Geschmack, von Texten ohne Sinn, von Meldungen ohne Bedeutung. Der Katalog sinn-, wert- und funktionsloser Objekte wächst von Tag zu Tag.

Eine Frage der Macht

In der Politik hat die Dummheit einen angestammten Platz. Vom trojanischen Pferd bis zum Krieg in Kabul oder Bagdad reicht die Torheit der Regierenden. Ob Tyrannen, Oligarchen oder Demokraten, zahllose Machteliten handeln gegen ihre eigenen Interessen, obwohl das Desaster erkennbar ist und obwohl Alternativen offenstehen.

Ob aus Starrsinn, Überheblichkeit oder dumpfer Gewöhnung, keineswegs ist das Feld der Macht eine Oase der Rationalität. Denn die Torheit der Regierenden stützt sich auf die Einfalt der Regierten. Innigst möchten die Untertanen an das glauben, was ihnen vorgemacht und versprochen wird, möchten durch Hoffnungen betrogen werden. Wider alle Erfahrung wollen sie jenen vertrauen, denen sie unterlegen und von denen sie abhängig sind.

Ohne Arglosigkeit keine Wählerstimme, kein Glaube ans «Gemeinwohl», an die Güte des Herrn. Doch in Fragen der Macht ist Vertrauen pure Dummheit.

Wolfgang Sofsky ist Soziologe und freier Autor.

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 URL:  Created:2020-10-21  Updated:
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