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Der programmierte Frust

Videorecorder, die kaum einer bedienen kann, Handys, deren Funktionen fast niemand begreift: Der Alltag im High-Tech-Zeitalter ist zu einem permanenten Intelligenztest geworden. Die Industrie verspricht Abhilfe - mit noch mehr Technik. Von Thomas Tuma

Wer den Media Markt in Hamburg-Wandsbek betritt, glaubt meist genau zu wissen, was er will.

Zielstrebig steuert der mündige Verbraucher vorbei an elektrischen Zahnbürsten mit Ultraputzsystem, Personenwaagen mit Multi-Sensor-Lastzellen und Profi-Küchenmaschinen, die Autoimpuls, Turbo und Momentschalter bieten.

Helfer in küche und bad - ausstattung deutscher haushalte An jeder Ecke wird er überrumpelt von der Hochrüstung moderner Haushaltstechnik. Da stehen Kühlschränke mit Econometer-Display und Staubsauger mit elektronischer Leistungsregulierung samt Infrarot-Fernsteuerung im Handgriff, die alle zu kreischen scheinen: Kauf mich, drück mich! Ich mach' deinen Dreck weg, und du kannst derweil mit Kind und Notebook am Strand spielen! In der Reklame ist das immer so.

Manche Mikrowelle hat mehr Tasten als ein Taschenrechner, die Bügeleisen sehen wie kleine Raumschiffe aus, und Radios heißen ProLogic-Receiver. Der dazu passende CD-Wechsler lockt mit Randomplay, Peak Search und Shuffle/Scan - was immer das ist.

Der Kunde sucht eigentlich nur einen Fernseher - mit Videotext und Stereosound vielleicht. Und zum Einbauschrank soll er passen, obwohl das kaum einer zu sagen wagt, denn plötzlich blockiert eine gigantische Mauer aus Bildschirmen Blick und Verstand: 400 verschiedene Geräte strahlen hier gleichzeitig - und natürlich haben alle Videotext und alle Stereosound.

"Die meisten erschrecken erst mal", sagt der Verkäufer Maik Meyer, 24, verständnisvoll. Spätestens nach drei Minuten weiß er, was die Kunden wollen, was nicht und was sie vielleicht trotzdem kaufen würden. Die wenigsten wollen jedenfalls soviel, wie Sony, Philips oder Grundig ihnen heute bieten.

Brauchen sie vielleicht 16:9 Bildformat? Oder einen integrierten Dolby-Surround-ProLogic-Verstärker? Wie konnten sie bislang ohne Sleep Timer, Einknopf-Auto-Tuning und IQ-Picture überleben?

Dank Mikrochips ist der Alltag eines durchschnittlich begabten Mitteleuropäers zu einem permanenten Intelligenztest geworden. Das Chaos ist programmiert - und programmierbar.

Morgens weckt ihn ein Radio, dessen Multifunktionstasten ihm ewig ein Rätsel bleiben werden. Im Büro zeigt ihm spätestens der schrankgroße Kopierer (wo ist der Modus "doppelseitig/verkleinert"?) oder sein PC, wie blöd ein einzelner Mensch wirklich sein kann. "Es ist Fehler 199 aufgetreten", funkelt es höflich. Nur, wer sagt ihm, was - um Himmels willen - sich hinter "Fehler 199" verbirgt?

Manchmal zieht er einfach den Stecker raus und hofft, daß nicht gleich ein Kollege reinkommt und zusieht, wie er da hilflos unterm Schreibtisch herumkriecht. Dabei geht es den anderen meist ähnlich.

Wo er auch anruft, hört er ein verzweifeltes "Moment, ich versuch' Sie mal zu verbinden", weil am anderen Ende der Leitung gerade eine neue ISDN-Anlage installiert wurde mit 300 Archiv- und Anklopf-, Konferenz- und Mailbox-Optionen, die nicht nur Sekretärinnen überfordern.

Er ist umzingelt von Speicher- und Programmtasten an Kaffee-, Geld- und Fahrkartenautomaten, an Handys ebenso wie an Autoradios. Seine Welt ist perfekt codiert. Was war noch mal das Paßwort? 4123? Ach nee, das ist ja die Geheimzahl der Scheckkarte. Die Technik terrorisiert ihn, denn er ist kaum noch kompatibel.

Keine ahnung, was das bild zeigt Und wenn er abends nach Hause kommt, hat der Videorecorder garantiert nicht James Bond aufgenommen, sondern eine polnische Dokumentation mit französischen Untertiteln - trotz akribischem Programmierstudium und "idiotensicherem ShowView", wie der Verkäufer versichert hatte.

Vielleicht hat er ja einfach die falsche von fünf Fernbedienungen gedrückt, die sein Wohnzimmertischchen in eine Kommandozentrale verwandeln. Aber wer befehligt da wen? Und wer hat schuld an der neuen Unübersichtlichkeit?

Ist es die Industrie, die uns in immer kürzeren Intervallen mit neuen Geräten versorgt, um Probleme zu lösen, die wir vorher nicht hatten? Sind es die Techniker, die unser Aufnahmevermögen ignorieren, oder die Designer, die uns nicht verstehen? Sind es die Gebrauchsanweisungen, die uns überfordern? Oder sind wir einfach zu blöd geworden?

Das wäre zwar nur ein dürrer Trost, stimmt aber ohnehin nicht. "Der menschliche Verstand ist perfekt darauf ausgerichtet, die Welt sinnvoll zu deuten", sagt der amerikanische Psychologe und Design-Kritiker Donald A. Norman. "Er braucht nur den kleinsten Hinweis, und schon ist er voll damit beschäftigt, Erklärungen, Rationalisierungen und Zweckmäßigkeiten zu suchen."

Auf der Suche nach dem verlorenen Sinn steht der Mensch am Ende des Jahrtausends dann auf einsamen Hotelfluren und fuchtelt mit einer Loch- oder Magnetkarte an seiner Zimmertür herum, wo es mit einem schlichten Schlüssel viel schneller ginge. Das Plastik-Mysterium wird mal eingesteckt, mal durch einen Schlitz gezogen. Von oben nach unten oder umgekehrt? Den Magnetstreifen links oder rechts? Irgendwann signalisiert ein grünes Lämpchen: Herzlichen Glückwunsch, nun hast du Trottel es ja auch endlich geschafft.

"Jedes Produkt verkörpert seine eigene Gebrauchsanweisung", schrieb der niederländische Soziologe Abram de Swaan. Aber das galt für eine Zeit, als Armbanduhren noch Zeiger hatten statt Chips für Weltzeituhr oder Biorhythmus, und Radios mit zwei Knöpfen auskamen: einer für die Lautstärke, einer für die Sender. Heute haben sie zwar auch nur drei, aber mit vielerlei Kombinationsmöglichkeiten.

Norman spricht vom "Paradoxon der Technologie". Zum einen biete sie ständig neue Hilfen, das Leben zu vereinfachen. Gleichzeitig aber "ergeben sich neue Komplexitäten, die unsere Frustration erhöhen".

Ein Stuhl ist ein Stuhl. Ein Hammer ist ein Hammer. Wer sich einmal auf den Daumen gehauen hat, weiß, wie das Werkzeug funktioniert - ohne Handbuch, ohne Warnhinweise und ohne weiter darüber nachdenken zu müssen. Aber sinnlich begreifbare Mechanik ist der undurchschaubaren Raffinesse moderner Elektronik gewichen.

Die Speicher-Chips werden immer kleiner, der simple Zusammenhang zwischen Aktion und Reaktion wurde dabei im Dickicht der Schaltkreise gleich mit weggeschrumpft. "Unser Denkvermögen", sagt der Bamberger Psychologe Dietrich Dörner, "wurde für eine Umwelt entwickelt, die wesentlich schlichter und überschaubarer strukturiert war als die, in der wir heute leben."

Wer sich jemals an die Zeitschaltuhr einer Kaffeemaschine gewagt hat, weiß Bescheid: Man drückt irgendwo drauf, und nichts passiert, auch wenn hinter der strahlend-weißen Stirnseite etwas passiert ist.

"Die Technisierung des Alltags ist in diesem Jahrhundert ein zentrales Erlebnis für alle Jahrgänge gewesen", sagt der Bremer Soziologe Ansgar Weymann. Und weil man vor allem in der Jugend jene prägenden Erfahrungen macht, die einen dann ein Leben lang begleiten, unterscheidet er mindestens drei große "Technik-Generationen".

Wer vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs geboren wurde, wuchs in "weitgehend technikfreien Räumen" auf. In jener düsteren Vorzeit gab es zwar schon Strom aus der Steckdose, aber neben Volksempfänger oder Elektrokocher noch wenig Geräte, die man hätte anschließen können.

So blieb dem Großteil der heutigen Senioren ein ängstliches Mißtrauen gegenüber allen Innovationen, das erst die "Generation der Haushaltsrevolution" abgeschüttelt hat. Der Plattenspieler machte das Leben schöner, das Moped schneller und der Staubsauger leichter.

Kühlschrank und Waschmaschine kamen als Boten einer schönen neuen Welt in unseren Alltag. Sie nahmen nicht nur Arbeit ab, sie repräsentierten das Wirtschaftswunder. Das Auto mutierte laut Weymann gar zum "Sinnbild für wachsende Gleichheit, Unabhängigkeit und Effizienz in einem".

Wer nach 1965 geboren wurde, kann das kaum nachvollziehen. Autos waren immer schon da. Das Essen kommt aus der Kühltruhe und die Zerstreuung aus der Glotze. Für die "Computergeneration" wurde der PC zum zentralen Identifikationsobjekt. Weymann spricht vom "Plug and Play als Grundprinzip". Einstöpseln, lustig sein.

So konnte eine japanische Spielkartenfirma namens Nintendo innerhalb eines Jahrzehnts zum führenden Konzern der Videospiel-Branche mutieren. Der virtuelle Zwerg Super Mario avancierte zum Heros der Popkultur, weil er uns half, Welten zu entdecken, die es vorher gar nicht gab.

Telefunken nannte ein Kofferradio einst "Bajazzo". Das klang irgendwie nett und freundlich. Wenn der Marketingmann eines Elektronikkonzerns heute mit so einem Namen ankäme, könnte er sich seine Papiere abholen. Radios müssen wenigstens ICF-9600 heißen. Das klingt effizient, leistungsstark und einschüchternd.

Technik heißt Computer. Und Computer bedeutet nicht mehr nur Erleichterung, sondern Zukunft und Karriere, Prestige und Spaß. An den bunten Knöpfen des Joypads mutierte Homo faber zum "Homo hacker", der von der Industrie bedient wird, bis er bedient ist.

Der Wandsbeker Media-Markt-Geschäftsführer Martin Dilkaute lästert gern ein bißchen, daß er auf der Spielwiese seines 4000-Quadratmeter-Marktes immer genug Platz hat, auch die blödsinnigsten Neuheiten stapelweise unterzubringen. Und daß die Geräte auch deshalb soviel können, weil sie ohne den ganzen Zusatz-Zauber auch nicht billiger wären. Die 40 Programmspeicher an manchen Autoradios seien lediglich Abfallprodukte des konkurrenzbedingten Entwicklungswahns.

In Dilkautes Computerabteilung gibt's den Chip-Rolls-Royce von gestern heute schon zum VW-Käfer-Preis. Gekauft werden die Kisten dann von Leuten, die nur bequemer Fahrrad fahren wollen und ohnehin keinen Führerschein haben.

"Die Innovationen fallen wie Brötchen vom Band der globalen Konzerne", sagt Dilkaute und meint es durchaus freundlich, denn er weiß: "Wir leben zum Teil von Geräten, die dann schnell im Keller verschwinden." Damit sind nicht nur die Legionen von Luftbefeuchtern, Popcorn-Maschinen, elektrischen Dosenöffnern, Fleischmessern oder Eierkochern gemeint, die der Frankfurter Technik-Philosoph Günter Ropohl gern "Nonsens-Produkte" nennt.

Wird die Welt wirklich vorangebracht durch den Quicktionary-Scanner der Firma Hexaglot, der es erlaubt, über einen Fremdsprachentext zu rutschen, und schwupps! blinkt die deutsche übersetzung des Wortes im Display auf? Wer hat den Scanner jemals an der Schlagzeile eines britischen Boulevardblatts probiert?

Technik ist schick. Technik macht Umsatz. Ropohl hält es für ein "vitales Interesse der Industrie, ständig neuen Schnickschnack hervorzubringen".

Mitte der achtziger Jahre rätselte der Kunde noch, ob er einen Videorecorder mit VHS- oder Beta-System kaufen soll. Heute muß er sich entscheiden, ob er zum CD-Player auch noch eine Mini-Disc-Anlage kauft, ob er an die Bildplattentechnik DVD glaubt oder seine Familienfotos künftig nur noch auf Disketten abspeichern will.

Die Tonbandkassette ist 20 Jahre nach ihrer flächendeckenden Einführung wieder vom Aussterben bedroht. Die Entwickler überholen sich selbst. Während vor fünf Jahren noch auf das hochauflösende analoge HDTV geschworen wurde, macht die Digitaltechnik nun eine völlig neue Generation von Fernsehern möglich und nötig.

Auch der letzte Einödbauer ist inzwischen mit mindestens einem Farbfernseher versorgt. Seit 1988 verzehnfachte sich die Zahl der deutschen Haushalte mit CD-Player - rund zwei Drittel besitzen nun einen. Der Anteil der Haushalte mit Videorecordern wuchs von 20 auf 76 Prozent, der mit Camcordern von 1,4 auf 22 Prozent. Jedes neue System schafft neue Fragen, neue Antworten und vor allem neue Märkte. Deshalb meint es die Industrie ausdauernd gut mit uns.

Matthias Schneider-Hufschmidt trägt auf seiner Visitenkarte den schönen Titel "Leiter Entwicklung Benutzungsoberflächen". Sein elfköpfiges Team aus Informatikern und Psychologen, Arbeitswissenschaftlern und Elektrotechnikern ist bei Siemens in München nur noch damit beschäftigt, die Alleskönner-Telefone des Konzerns für den Kunden wieder verständlicher zu machen.

Als er vor knapp drei Jahren damit begann, die Abteilung aufzubauen, forderte er von Bewerbern "nicht nur irgendein Diplom, sondern auch gesunden Menschenverstand". Denn sie setzen dort an, wo ihre Firma früher gern aufgehört hat. Während die Handy-Entwickler sich noch freuen, 100 Funktionen in ein zigarettenschachtelgroßes Kistchen gepackt zu haben, fragt Schneider-Hufschmidt bereits lange vor der Serienreife: Brauchen wir das wirklich alles?

Jede Waschmaschine sei so komplex geworden, daß man ohne akademischen Grad seine Unterhosen nicht mehr sauber bekommt. Der Mann ist kein ideologischer Spinner mit Zurück-zur-Natur-Sprüchen im Jute-Täschchen. Als er mal eine U-Boot-Dokumentation sah, erschreckten ihn nicht die großen Schalttafeln, sondern ein winzig kleines Detail: Am Videorecorder blinkte die Uhrzeit. Da war also eine ganze Crew von hochbezahlten, hervorragend ausgebildeten Fachleuten an Bord, aber offenbar fand sich keiner, der diese lächerliche Uhr hätte programmieren können.

Wenigstens bei seinen Handys möchte Schneider-Hufschmidt ähnliche Pleiten vermeiden: Warum muß man zum Beispiel beim Archivieren einer Telefonnummer erst die Zahl eingeben, dann den Namen? "Logisch ist das nicht", sagt er, denn wer sich eine Nummer aufschreibt, notiert zuerst den Namen.

Auch Reduktion bedeutet nicht immer Erleichterung. Mit einer roten Unterbrechertaste kann bei manchen Handys während eines Gesprächs in die Telefonbuchfunktion gewechselt werden. Aber selbst hartgesottene Manager wagten den Sprung im Testversuch nicht, weil sie fürchteten, dann auch die Leitung zu kappen.

Die Angst ist Schneider-Hufschmidts Geschäft. Und er lotet sie nicht nur im firmeneigenen Usability Lab aus, wo der Konzern an seinen Kunden alles testen läßt, was er produziert: vom Kernspintomographen mit rund 2500 Funktionen bis zur Mikrowelle, die auch bei Siemens derzeit mit ein paar weniger auskommt.

Hier wird der Betrieb einer Bohrinsel ebenso simuliert wie der Befehlsstand eines Kraftwerks oder eine neue Waschmaschine. Die Reaktionen der Versuchspersonen, ob Hausfrau oder Ingenieur, reichen von gelassener Aufgaben-Erledigung bis zu adrenalinumspülten Zornausbrüchen.

Und selbst dieses Labor reichte nicht für den Feldversuch eines neuen Einsteiger-Handys, das Siemens im nächsten Sommer mit viel Geld auf den Massenmarkt drücken möchte. Um zu gewährleisten, daß die Probanden nicht einmal vom Firmennamen beeinflußt wurden, ließ man das Gerät kürzlich anonym in Berlin testen.

Es gab noch nicht einmal einen Prototyp. Die 80 sorgfältig ausgesuchten Testnutzer, von der Hausfrau bis zum Rentner repräsentativ für die angesteuerte Zielgruppe, mußten statt dessen mit einem virtuellen Handy am Computer hantieren. Die Frage sei zumindest erlaubt, ob da nicht wieder der Bock zum Gartenarchitekten wurde.

Jedenfalls gehen die Tester häufig mit 3 Fragen in solche Versuche und kommen mit 17 neuen Problemen wieder raus. Das Wichtigste kann auch Schneider-Hufschmidt nicht lösen: Technisch ist heute weit mehr machbar, als dieser nebulöse "Endverbraucher" noch verarbeiten kann.

Er weiß selbst am besten, daß er 95 Prozent seiner Zeit über 95 Prozent der Handy-Optionen brütet, die dann nur fünf Prozent der Käufer nutzen. Spezialfunktionen seines eigenen Telefons läßt der promovierte Informatiker von Kollegen justieren, "weil ich nicht bereit bin, so was zu lernen".

Irgendwann müsse die Branche "wegkommen von den eierlegenden Wollmilchsäuen", sagt er. Denn auch Maschinen könnten "vergewaltigt" werden, wenn man ihnen zu viele Aufgaben und Möglichkeiten aufbürdet, deren verwirrende Wechselwirkungen der Käufer nicht mehr nachvollziehen kann.

Natürlich wäre er in der Lage, ein Handy zu konstruieren, das ohne Farbdisplay, Menüleiste und Funktions-Firlefanz auskommt. Ein Telefon, mit dem man einfach nur telefoniert. Wählen, reden, auflegen. Die gängige Options-Onanie erwarteten aber nicht so sehr die Kunden als die Service Provider. Wer mehr Möglichkeiten hat, der telefoniert auch mehr, denken sich Firmen wie Debitel oder Talkline. Ihnen geht es darum, uns zu glücklichen Gebührenzahlern zu erziehen.

Schneider-Hufschmidt wäre derweil schon froh, Handys bauen zu können, die ganz ohne Gebrauchsanweisung auskommen. Denn wer die tristen Broschüren braucht, findet sie nie. Wer sie zur Hand hat, entdeckt nicht, was er sucht. Und wenn doch, kapiert er den Text nicht.

Aber gerade weil Mensch und Maschine sich fremder denn je sind, wird das Grenz-Medium Gebrauchsanweisung immer wichtiger - trotz oder gerade wegen all der eingebauten Erleichterungen.

Die Gelsenkirchener Küchenfirma Küppersbusch wirbt für ihre Elektroeinbauherd-"Topserie" 670.0 mit 24 Back-, Brat- und Beheizungsprogrammen, mit Digitalanzeigen für Tages-, Kurz- und Garzeit sowie Backofen- und Kerntemperatur, mit Ankoch-Automatik und Topferkennung.

Die Hausfrau taucht in den Hochglanzprospekten nur noch als computeranimiertes Strichwesen auf. Wahrscheinlich kann der 670.0 der nächsten Generation auch die Speisereste sorgfältig sortiert der Müllabfuhr überantworten.

"Der Mensch läuft Gefahr, sich selbst überflüssig zu machen", sagt Peter Zec merkwürdig kritisch, denn immerhin war die Innovationsfreude der Firma Küppersbusch seinem Design Zentrum Nordrhein-Westfalen einen Gestaltungspreis wert.

Das Essener Institut ist wie vieles, was im Ruhrgebiet die Zukunft repräsentiert, auf einem schicken, weil uralten Zechengelände aus der industriellen Urzeit untergebracht. Medienwissenschaftler Zec versteht das Design Zentrum als eine Art Stiftung Warentest für gute Gestaltung und sich selbst als Vermittler zwischen öffentlichkeit und Industrie. Da lag es nahe, der schriftgewordenen Nahtstelle Gebrauchsanweisung eine eigene Ausstellung zu widmen - ein ernstes Thema, denn die kleinen Helfer mit ihren Fotos, Piktogrammen und Querverweisen tauchen überall auf:

Ein Reisekoffer kommt mit Handzettelchen aus, für den Airbus braucht es über 400 000 Seiten. Gebrauchsanweisungen erklären den neuen Rührbesen wie die Nebenwirkungen einer Kopfschmerztablette - auch wenn die Lektüre von Medikamenten-Beipackzetteln nur noch passionierten Hypochondern empfohlen werden kann.

Die Essener Ausstellungsbesucher lachten vor allem über die Kapriolen globaler Sprachverwirrung, die sich nirgends absurder manifestiert als in vielen Gebrauchsanweisungen.

"Drücken vorwärtz zwei Henkel mutige Schrauben der Oberen und niedern seiten des Rahmen-Kragstein berücksichtig", rät ein japanischer Autoradiohersteller seinen deutschen Kunden. "Solange sie können vorwärtz und abwärtz dann festigen vier Henkel Schraube".

Klingt, als sei eine asiatische Hilfskraft irgendwo in Hirosaki einfach mit einem Quicktionary-Scanner und integriertem Randomplay über die japanische Ur-Quelle gerutscht - fertig war die deutsche übersetzung.

"Wenn alles richtig eingesielli", bittet der Begleittext einer Quarzuhr, "isluruchen Sie S2 bis Slunuen and Mirunan mii blindendern Coppalpunki arschetuen. Sollite die Doppelpunki ruchi blinish denn drucken Sie S1." Man beachte das korrekt großgeschriebene "Sie"!

Deutsche Texte sind nicht unbedingt verständlicher. Als die Stiftung Warentest die Gebrauchsanweisungen von 20 Videorecordern testen ließ, schnitt die Hälfte mangelhaft ab, nur vier kamen gut weg. Die Tester kapitulierten vor der Vielzahl von Spezialausdrücken und Verbalattacken wie "Abstimmungsbetriebsart", "Programmspeicher-Löschmodus" oder "VHF-Tiefband/Hochband" und der unlogischen Gliederung.

Deprimierende Bilanz: "Wer sich ausschließlich auf die Anleitung verläßt, für den bleibt der Videorecorder womöglich auf ewig ein unbekanntes Wesen."

Menschliches Versagen ist nicht nur bei Flugzeug-Abstürzen oder Zug-Unglücken zur obligatorischen Entschuldigung geworden. Das Nürnberger Marktforschungsinstitut icon befragte bis Anfang November 400 Käufer von Computern und Unterhaltungselektronik. über ein Viertel, so die unveröffentlichte Studie, hatte Probleme, unter anderem mit Anschluß, Aufbau und Gebrauchsanweisung.

Selbst das simple Auto ist dank Bordcomputer und Sensorzellen, Programm-Codes und Wegfahrsperren dem Options-Overkill ausgeliefert. Die Kontrolle über soviel Schaltkreise vertrauen die Techniker lieber einem weiteren Mikrochip an statt dem größten Sicherheitsrisiko, dem Fahrer.

Die Porsche AG zum Beispiel steckt viele Millionen Mark in die Werbung, die jede Zündkerze des Zuffenhausener Motoren-Mythos glanzvoll ausleuchtet. Darunter fand Porsche-Fahrer Zec den sinnlichen Slogan: Die große Freiheit beim Schalten.

Wer diese Freiheit näher kennenlernen will, wird selbst von der Anleitung des neuesten 911 Carrera schnell überrollt: "Die Porsche Tiptronic ist ein Fünfganggetriebe mit kurzen Schaltzeiten ohne Zugkraftunterbrechung beim Beschleunigen."

Da ist von "Hochschaltvorgängen" die Rede, die "bei den höchstmöglichen Drehzahlen erfolgen. Diese Schaltdrehzahlen bleiben bis zu einer Gaspedalrücknahme auf ca. 50 % der Vollaststellung aktiv". Derlei Industriepoesie und Gebrauchslyrik ist von Technikern für Techniker geschrieben.

"Ursprünglich haben die Entwickler ihre Handbücher selbst formuliert. Leider ist das zum Teil bis heute so", sagt Jörg Hennig. Der Hamburger Germanistikprofessor sitzt im Vorstand der "tekom, Gesellschaft für technische Kommunikation". Sie ist mit 2600 Mitgliedern Europas größter Fachverband für Anleitungsautoren, sogenannte Technische Redakteure.

Zwar gibt es mittlerweile ein klar umrissenes Berufsbild, etliche Studiengänge und Weiterbildungsangebote. Aber die Krise des Gewerbes zeigt sich nirgends erschreckender als beim tekom-Wettbewerb, der alljährlich die beste Anleitung küren soll.

Nach Telefonen, Satellitenempfangsanlagen und Anrufbeantwortern waren im Frühjahr Kompakt-Küchenmaschinen dran. Die Qualität der Texte von Quelle, Siemens und Philips, Bosch und Braun, Moulinex und AEG erschütterte die Juroren derart, daß sie "keine Prämierung rechtfertigt".

Der Germanist Hennig haßt die Anleitungen sowieso: "Wenn ich ein Radio kaufe, will ich kein Buch." Er möchte auch nicht drei Seiten Gratulationen des Herstellers lesen, wie richtig sein Kauf war. Und er will es erst recht nicht in neun Sprachen, wenn er schon die deutsche Fassung nicht versteht.

Der tekom-Vorstand Hennig sagt dann, daß die enorme Bedeutung technischer Dokumentationen noch nicht ausreichend gewürdigt werde. Schuld sei der Verbraucher, der sich lieber von vielen Knöpfen statt guten Anleitungen dirigieren läßt. Und schuld sei die Industrie, die ihr Geld lieber in die Entwicklung noch leistungsfähigerer Chips pumpt und die lästigen Anleitungen billig außer Haus zusammenschreiben läßt.

Rund zwei Dutzend Agenturen beschäftigen sich inzwischen damit, anderen Unternehmen die Gebrauchsanweisungen zu gestalten. Jürgen Hahns Marketing und Technologieberatung in Obertshausen bei Frankfurt ist eine von ihnen. Der 45jährige scheint prädestiniert für den Job.

Er war zwölf Jahre alt, als sein Vater mit ihm einen Modellflieger zusammenbasteln wollte. Weil keiner der beiden die Anleitung kapierte, schickten sie dem Hersteller kurzerhand eine eigene Skizze. Wenige Wochen später brachte die Post zwei weitere Bausätze mit der Firmen-Bitte, über die doch auch mal nachzudenken. Hahn begann zu ahnen, womit in dieser Gesellschaft Geld zu verdienen ist.

Später studierte er Maschinenbau und Betriebswirtschaft. Wie problematisch die Handhabung von Geräten sein kann, sah er im Forschungslabor von Rowenta ebenso wie während seiner Bundeswehrzeit in der Flugsicherung. Bei einem US-Konzern lernte er, Abfallprodukte der Luft- und Raumfahrt an die Hausfrau zu bringen. In einer Werbeagentur holte er sich den letzten Schliff in Sachen Verkaufsförderung.

Heute sagt er Sätze wie: "Im Informationszeitalter können wir uns nur noch behaupten, wenn wir das Wissen, über das wir verfügen, auch vermitteln können."

Offenbar können wir es noch nicht. Hahns Referenzliste reicht von ABB bis ZDF. Er doziert an der Frankfurter Fachhochschule, schreibt Aufsätze, Bücher und Gebrauchsanweisungen*. Abends spielt er in einer Dixieland-Band Kornett, ein wunderbar schlichtes Blasinstrument, sagt er, das fast ohne Anleitung auskommt. Tags darauf stößt er dann bei seinen Auftraggebern wieder auf "totale Verunsicherung" mit den eigenen Produkten und deren juristischer Grundlage.

Nach dem Produkthaftungs- schreibt seit kurzem auch das Produktsicherheitsgesetz den Gebrauchsanweisungen ein Mindestmaß an Inhalt vor. Die tristen Heftchen müssen

  • in der Landessprache beiliegen,
  • den bestimmungsgemäßen Gebrauch des Produkts beschreiben,
  • auf sachwidrige Verwendung ausdrücklich hinweisen und
  • vor Gefahren und Risiken umfassend warnen.

Aus Angst vor langwierigen Schadensersatzprozessen, die in den USA längst zum Milliardenpoker geworden sind, überfrachten die Hersteller die Beschreibungen nun lieber mit Warnungen von der Sorte: "Die Motorsäge nicht in betrunkenem Zustand benutzen."

Das Oberlandesgericht Stuttgart verurteilte einen Importeur von Meßgeräten zu 110 000 Mark Schmerzensgeld und einer Monatsrente von 300 Mark, nachdem ein Montageingenieur schwere Verbrennungen erlitten hatte. Schuld war die mangelhafte Gebrauchsanweisung.

Experten schätzen die Kosten, die durch falsche, bruchstückhafte oder unverständliche Anleitungen allein in Deutschland jährlich entstehen, auf weit über eine Milliarde Mark. Die Württembergische Feuerversicherung untersuchte 12 000 Schadensmeldungen an elektronischen Geräten. Fast die Hälfte konnte auf Bedienungsfehler zurückgeführt werden.

Der Importeur eines Staubsaugers hatte versäumt, darauf hinzuweisen, daß der Filter nicht den feinen Tonerstaub eines Fotokopierers schlucken kann. Prompt verwandelte eine Angestellte ihr Büro in ein rußgeschwärztes Bergwerk. Die Reinigung kostete rund 10 000 Mark. Der Importeur zahlte, noch bevor es zum Prozeß kam.

Seit am 1. August dieses Jahres das neue Produktsicherheitsgesetz in Kraft trat, steht neben dem Produzenten auch der Verkäufer mit einem Bein vor Gericht. Denn nun verbietet das Gesetz sogar, Geräte mit mangelhaften Handbüchern überhaupt anzubieten.

Komischerweise hat der Normen-Wirrwarr noch nicht zu besseren Anleitungen geführt, sondern zu brutalerem Wettbewerb. Der Bundesgerichtshof stellte schon 1991 klar, daß die Nichteinhaltung der "allgemein anerkannten Regeln der Technik" zu der Annahme berechtigt, ein Produkt sei mangelhaft (AZ V ZR 349/89). Ein Fön ist demnach bereits fehlerhaft, wenn die Gebrauchsanweisung in die Irre oder Notfall-Ambulanz führt, auch wenn das Gerät selbst tadellos funktioniert.

Verkaufsverbote, Rückrufaktionen und Unterlassungserklärungen könnten folgen. Kein Wunder, daß immer mehr Firmen gleich noch die Anleitungen der Konkurrenz begutachten lassen.

Godehard Pötter, der erste in Deutschland vereidigte "Sachverständige für Technische Dokumentationen für Endverbraucherprodukte", kontrolliert bereits jede fünfte Gebrauchsanweisung nicht für deren Hersteller, sondern für die Konkurrenz.

Und was hat der Kunde von all den Normen, Verordnungen und Vorschriften, Richtlinien, Gesetzen und Grundsatzurteilen? "Er bekommt künftig bessere Anleitungen", glaubt Pötter. "Und er kann sich endlich gegen schlechte wehren."

Selbst Computer-Kids mußten kapitulieren, als etwa die Telekom sie in der Anleitung eines Scall-Empfängers irre trendy ansprach: "Der Dreh mit dem Dreh: den Scall umdrehen, zweimal kurz aufs Knöpfchen klopfen, schräg unter den Plastik-Clip lugen. Was steht wohl auf dem Etikett neben den Buchstaben ID? Und jetzt rate mal, welche vier Zahlen deutlich unterstrichen sind? Kluges Kind!"

Navajo-Indianer kommen mit 236 Gegenständen aus, bei uns besitzt jeder Haushalt durchschnittlich 10 000 Dinge, sagt die Sozialpsychologin Herrad Schenk. Was bei Diogenes die Tonne, bei Franz von Assisi die Kutte und bei Rousseau die Natur, das sei jetzt der bewußte Verzicht auf Handy oder Internet: ein Rückzugsgefecht am gesellschaftlichen Tellerrand.

In Biographien aus dem 19. Jahrhundert stolperte Schenk häufig über den Satz: "Er verschlang alles, was es zu lesen gab." Heute dagegen müßten wir uns fortwährend gegen die durch alle Poren quellende Informationsflut wehren.

Schenk bewohnt in Pfaffenweiler bei Freiburg ein Haus aus dem 17. Jahrhundert. Sie hat keine Tiefkühltruhe und keine Mikrowelle, keinen Fön und kein Handy. "Vom einfachen Leben" ist ihre Essay-Sammlung betitelt, mit der Schenks Verlag den "Mega-Trend der nächsten Jahre" aufgespürt zu haben glaubt*.

Dabei weiß sie selbst, daß dieser Rückzug ein "Privileg der Privilegierten" ist; daß sich das neue Nichts nur leisten kann, wer mehr Geld und Bildung mitbringt; und daß die Verzichts-Schickeria ziemlich zynisch wirken muß auf Millionen von Arbeitslosen, die doch froh wären, wenn sie sich überhaupt einen neuen Fernseher leisten könnten.

"Aber unsere Psyche schafft es nicht mehr, mit Tempo und Technik unserer Zeit fertigzuwerden", sagt Schenk. "Ich brauche keine 999 Funktionen am Toaster, die soviel Einarbeitung verlangen, daß die Zeit für wirklich kreatives Tun verlorengeht."

Künftig "gewinnt nicht der Hersteller die Marketingschlacht, der sein Gerät durch die Eliminierung von Möglichkeiten vereinfacht", glaubt der niederländische Designkritiker Piet Westendorp, "sondern jener, der die gesamte Technik für den Anwender nutzbar zu machen versteht".

"Dafür müssen Sie nicht Handy studiert haben", lockt Nokia in Anzeigen für den allerletzten Schrei ihrer Mobilfunkentwickler. Und der Chef-Designer der reanimierten Alt-Marke Dual darf via Werbung "die Verbindung von technologischem Fortschritt und gestalterischer Rückbesinnung" beschwören. Die "große Zielsetzung" sei es, dem Kunden "das Leben so leicht wie möglich zu machen".

Das muß Gotthard Graß vom Zentralverband der Elektrotechnik und Elektronikindustrie (ZVEI) wohl meinen, wenn er sagt: "Es geht nicht mehr um die technische Machbarkeit, sondern um die alltägliche Brauchbarkeit." Der Bedienkomfort werde ein "immer wichtigeres Wettbewerbsmittel".

Leute wie Friedrich Manz sind längst dabei, den Weg in die Zukunft zu asphaltieren. Zwar weiß auch der Profi für neue Technologien in der Kölner Sony-Zentrale, daß die Komplexität der Geräte rasend wächst. Aber gleichzeitig werde auch der Umgang damit simpler. "Wir treiben den Teufel mit dem Beelzebub aus."

Manz schwärmt von maschineller Fuzzy Logic, so einer Art Chaos-Verstand, wie er auch den menschlichen Geist auf neue Ideen bringt. In der Intensivstation meldet Dr. Chip heute automatisch Fieber, wenn die Körpertemperatur des Patienten 37 Grad erreicht hat. Bei 36,99 bleibt der Rechner stumm.

Die nächste Generation lernt, wertet, wägt ab und vergleicht mit anderen Daten, die eine Vielzahl von Fühlern und Sonden ständig aktualisieren.

In der heimischen Waschmaschine wird das Kunst-Hirn allein erkennen, wie verschmutzt die Socken sind, selbst das Waschmittel dosieren und das beste Programm aussuchen. Und wenn die Hausfrau über verfärbte Unterhosen schimpft, dann wird der Kasten vielleicht sogar höflich antworten, daß das ja nun nicht seine Schuld sei. Das Nachfolgemodell kann dann wahrscheinlich auch noch die rote Socke aus der Trommel werfen.

"Bis in zehn Jahren werden wir erreichen, was auf dem Raumschiff Enterprise schon immer möglich war", phantasiert sich Manz zurück in die Zukunft, " daß wir mit dem Computer sprechen." Er wird die Bewohner an der Haustür an ihrer Stimme erkennen. Er wird auf Zuruf Alarmanlage und Geschirrspüler steuern. Und er wird uns kontrollieren und überwachen.

Aber das sagt Manz natürlich nicht. Was, bitte, sei einfacher zu bedienen als eine Sprachsteuerung? "Reden kann jeder. Dafür brauche ich nicht einmal eine Gebrauchsanweisung."

Der vorläufige Schluß- und Höhepunkt all dieser Visionen steht am Ostufer des amerikanischen Lake Washington, unweit von Seattle: ein Einfamilienhaus für rund 60 Millionen Dollar. Jeder Gast bekommt einen Mikrochip ans Hemd gezwickt. Dann versorgen Videowände ihn mit der gewünschten digitalisierten Umgebung. Einmal programmiert, reagieren Heizung, Licht und Stereoanlage auf die Bedürfnisse des Besuchers, wohin er auch wandert in dem 3700 Quadratmeter großen Cyber-Palast aus viel Holz und Stein und noch mehr Kabeln und Sensoren.

Die Besitzer sind zugleich die Testpersonen. Nach sieben Jahren Bauzeit zog Microsoft-Gründer Bill Gates, 42, vor wenigen Wochen mit Gattin Melinda und Tochter Jennifer ein. Noch ist unklar, ob es Gates nicht bereits auf die Nerven geht, bis aufs Klo von einer Windows-Version verfolgt zu werden.

Freunde gönnen ihm den Zauber. Feinde auch. Gates hat mit seinen Programmen unser alltägliches Handeln stärker geprägt als jede Regierungserklärung und jeder Umweltgipfel. "Die Microsoft-Macht ist überall", sagt der deutsch-kalifornische Software-Visionär Kai Krause (siehe Interview in der gleichen Ausgabe)

Wir scrollen durch die Welt, klicken an, wo's uns gefällt. Wir denken in Menüs und Tools. Wir warten stundenlang auf Zugriffsberechtigungen, Downloads und den Service-Techniker, weil unsere Suchmaschine irgendwo zwischen Wichita und Ostrownoje zu verhungern droht. Und wir fürchten uns vor Office-Paketen, obwohl man mit einer einzigen CD-Rom für 89 Mark bestimmt einen kompletten afrikanischen Kleinstaat reorganisieren könnte, wenn man das Programm nur verstünde.

Der Computer hat die Papierflut in den Büros nicht gestoppt, sondern versechsfacht. Der Computer macht krank: US-Untersuchungen zeigen, daß die Fehlzeiten bei der Belegschaft viermal so hoch ausfallen, wenn ein neues System eingeführt wird. Der Computer erstickt uns. "Alle fünf Jahre verdoppelt sich die Informationsmenge, die uns zur Verfügung steht", sagt Andreas Dengel vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz in Kaiserslautern.

Und was sagt Bill Gates? "Mein Haus soll beweisen, daß Technik dient, nicht herrscht." Das ganze Land nickt einträchtig.

In Amerika gibt es bereits eine Home Automation Association, die das Geschäft mit der Hauselektronik allein in den USA auf 3,3 Milliarden Dollar schätzt. Es gibt Magazine, die "Electronic House" oder "Popular Home Automation" heißen. Und es gibt Leute wie Bill Maronet, Chef einer Installationsfirma in West Palm Beach, die behaupten: "Solche Systeme werden bald genauso akzeptiert sein wie einst die TV-Fernbedienung."

Vor soviel Zukunft fühlt man sich schon heute wie von vorgestern. Technik-Philosoph Ropohl schrieb kürzlich einen Brief an die AEG, weil er mit der Gebrauchsanweisung seines Staubsaugers nicht klarkam. Der Siemens-Informatiker Schneider-Hufschmidt kann die Uhr an seinem Videorecorder nicht programmieren. Und ZVEI-Sprecher Graß flucht über PC-Handbücher, so dick und lesbar wie Backsteine.

Anleitungsautor Hahn ärgert sich von Berufs wegen, zum Beispiel über eine Friteuse mit Zeitschaltuhr, obwohl die Anleitung ausdrücklich davor warnt, das Gerät unbeaufsichtigt zu lassen. Und für tekom-Mann Hennig ist die ISDN-Technik eine Art gedankliches Bermuda-Dreieck, während sein 84jähriger Vater schon von einem schnurlosen Telefon "völlig überfordert" war.

Früher hatte der Mensch im ungünstigen Fall ein Brett vorm Kopf. Heute ist es eben eine Menüleiste.

* Jürgen H. Hahn: "Jetzt zieh den Zipfel durch die Masche. Das Buch der Gebrauchsanweisungen". Deutscher Taschenbuch Verlag, München; 176 Seiten; 12,90 Mark.
* Herrad Schenk (Hrsg.): "Vom einfachen Leben. Glücksuche zwischen überfluß und Askese". Verlag C. H. Beck, München; 296 Seiten; 38 Mark.

DER SPIEGEL 48/1997 - Vervielfältigung nur mit Genehmigung des SPIEGEL-Verlags

 

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