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Keiner von euch hat das Recht, nicht beleidigt zu werden

Condoleezza Rice schätzt das Campus-Leben. Zu ihren Studenten sagt sie: «Keiner von euch hat das Recht, nicht beleidigt zu werden»

Das Gespräch führte René Scheu in Stanford. {die hervorhebung in fett stammt von KLD}

Frau Rice, Sie waren National Security Advisor, später Aussenministerin der Vereinigten Staaten von Amerika unter George W. Bush. Kaum jemand dachte, dass Sie nach dieser politischen Karriere zurück nach Stanford kommen würden, wo Sie bereits viele Jahre zuvor als Associate Professor gelehrt hatten. Warum haben Sie es dennoch getan?

Ganz einfach: Ich kann mir keinen schöneren Ort vorstellen als eine solche Universität, um etwas zu bewegen. Da ist so viel Leidenschaft, Wissensdurst, Energie. Die klügsten jungen Köpfe und Menschen, die neues Wissen schaffen, kommen hier zusammen. Ich hegte nie den geringsten Zweifel, dass ich zurückkommen würde.

Stanford ist bekannt dafür, über her-vorragende Sportteams zu verfügen. Gehören Trainingskultur und Wettkampfdenken für Sie zwingend zu einer Spitzenuniversität?

Was es braucht, ist eine energetische, befruchtende Umgebung. Exzellenz schafft Exzellenz, überall. Darum gehört für mich Sport dazu. Und dazu zähle ich auch die Musik. Sie finden hier in Stanford gute Musiker, die hart an sich arbeiten und zugleich unheimlich viel Freude an dem haben, was sie tun.

Sie müssen es wissen: Sie wollten einst Konzertpianistin werden. Als Aussenministerin haben Sie einmal ein kleines Privatkonzert für die Queen gegeben.

Ich war am Ende zu wenig gut! Aber diese Idee gefällt mir: Sie haben talentierte Musiker, die – zum Beispiel – begabte Biologen werden. Zugleich befruchten sie den Chor auf dem Campus. Sie leisten einerseits ihren Beitrag zur Gemeinschaft und zeigen anderseits: Wenn du wirklich willst, kannst du es weit bringen in dem, was du anpackst. Natürlich können andere Leute diese Ambition auch ausnutzen, Trainer und Lehrer. An amerikanischen Universitäten ist es immer wieder zu Machtmissbrauch gekommen, wenn Studenten wie Söldner behandelt wurden. Dann funktioniert es nicht – was es braucht, ist eine intakte zivile Campus-Kultur.

Wann stehen Sie auf? Ich habe festgestellt, dass die Leute hier in aller Herrgottsfrühe joggen gehen und sich dafür ungewohnt früh ins Bett legen. Bereits um 21 Uhr leeren sich in Palo Alto die Restaurants.

(Lacht.) So leben wir hier! Ich stehe um 5 Uhr auf, beginne um 5 Uhr 30 mit Sport, und um 21 Uhr 30 liege ich im Bett. Als ich Aussenministerin war, führte dieser Lebenswandel zu etlichen Problemen mit Kollegen. Manche Südeuropäer lieben es, spät zu essen – und dazu noch richtig üppig. Wenn sie die amerikanische Aussenministerin treffen wollten, mussten sie sich jedoch meinem Rhythmus anpassen – 19 Uhr Lokalzeit war für mich der spätmöglichste Dinner-Termin.

Sie sind aufgeschlossen gegenüber dem technologischen Wandel – das ist eine Haltung, die ich hier allenthalben beobachte. Pflegt Stanford ganz bewusst einen regen Austausch mit den Akteuren des Silicon Valley?

Stanford ist nicht nur geografisch, sondern auch mental mit dem Valley verbunden. Es ist eine junge Universität, 125 Jahre alt, und sie ist seit Beginn mit einer Kultur der Ambition und des Wagemuts verbunden. Stanford hat sich nie als Elfenbeinturm verstanden, sondern stets als Ort des Experimentierens und Problemlösens, frei nach dem Motto: Wenn du's nicht schaffst, versuch's wieder, bis du's schaffst. Die Studenten wollen da draussen etwas verändern. Das haben die gleichnamigen Gründer von Hewlett & Packard in den 1930er Jahren getan. Das haben auch die Gründer von Google getan. Larry Page und Sergey Brin sind hier in Stanford ihren Studien nachgegangen, als sie ihre Suchmaschine entwickelt haben.

Der in Stanford lehrende Literaturwissenschafter Hans Ulrich Gumbrecht schrieb einmal, dass der Weltgeist des 21. Jahrhunderts im Silicon Valley wohne. Das war natürlich auch pro domo formuliert. Wie stehen Sie selbst zu all den Tech-Giganten, die gerade die Lebens- und Businessformen des ganzen Globus neu definieren?

Was mein Kollege sagt, stimmt. Und ich habe keine Angst, wenn ich an Airbnb, Facebook, Uber, SpaceX oder Tesla denke, ich empfinde erst einmal Optimismus. Wenn sich heute die Kulturkritiker über die Probleme der Moderne beklagen, so sind das Luxusprobleme. Wir haben keine Plagen mehr, wie sie einst die Menschheit heimsuchten – zum Glück. Nicht alle, aber die allermeisten Menschen leben heute, gemessen an historischen Standards, anständig. Frauen führen ein Leben, wie sie es sich vor fünfzig Jahren nicht einmal im Traum vorstellen konnten. Minderheiten können sich frei entfalten. Der Wohlstand insgesamt steigt. Das sind grossartige menschliche Fortschritte, die wir oftmals auch technologischen Neuerungen zu verdanken haben. Darum stehe ich den Versuchen, hier das künftige Zusammenleben der Menschen zu verbessern, im Grundsatz sehr positiv gegenüber.

Wo sehen Sie Gefahren?

Ich frage mich zuweilen, ob unsere Seele mit den ständigen Neuerungen mithalten kann. Einst war es die Religion, die den Menschen Halt gab. Ich selbst bin eine zutiefst religiöse Person, mein Vater und mein Grossvater waren presbyterianische Pfarrer. Moderne, dem Fortschritt verpflichtete Gesellschaften tendieren hingegen dazu zu denken, dass sie auf Religionen verzichten können. Ich bin jedoch überzeugt, dass Menschen etwas brauchen, das grösser ist als sie selbst. Wenn es nicht mehr die Religion ist, was ist es dann? Meine zweite Sorge: Technologie ist an sich weder gut noch schlecht, es kommt darauf an, ob sie von Menschen gut oder schlecht genutzt wird. Doch unsere Weisheit ist nicht immer auf der Höhe unseres technischen Wissens. Verstehen wir immer, was wir tun?

Sie haben auf den sozialen Fortschritt in den USA hingewiesen. Die Mitglieder von Minderheiten sind zu Bürgern im vollen Sinne geworden. An den Universitäten ist in den letzten zwanzig Jahren zugleich eine Kultur der Political Correctness (PC) entstanden, die alle darauf verpflichtet, ihre Kollegen mit Samthandschuhen anzufassen. Schränkt die PC das freie Lehren, Reden und Denken ein, oder ist sie ein blosses Scheinproblem?

PC ist eine ernstzunehmende Bedrohung für die Existenz von Universitäten. Wenn ich höre, dass Studenten sich wohl fühlen wollen, hört bei mir der Spass auf. Es ist nicht meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich Leute in meinen Kursen wohl fühlen, im Gegenteil – es ist mein Job, sie dazu zu bringen, die Wohlfühlzone zu verlassen. Sie müssen sich mit Ideen auseinandersetzen, die nicht in ihr Weltbild passen. Verstehen Sie mich richtig – es geht nicht darum, Leute zu beleidigen oder schlecht zu behandeln, aufgrund ihrer Ethnie oder ihrer Religion. Es geht an einer Universität darum, in der Erkenntnis gemeinsam weiterzukommen, und die kennt nun einmal weder Ethnie noch Religion.

Wann ist die Bewegung gekippt, von einer Bewegung, die Anstand verbriefen wollte, zu einer Aktion, die Schutz vor unbequemen Meinungen fordert?

Der Prozess, der mit den besten Absichten begann, verlief schleichend. Zuerst ging es um gleichen Respekt für alle – das war gut. Doch das Blatt hat sich gewendet, eine kleine extreme Minderheit begann so zu argumentieren: Wann immer du etwas sagst, das mich als Angehöriger einer Minderheit beleidigt, auch wenn du es nicht so gemeint hast, habe ich das gute Recht, beleidigt zu sein und dir den Mund zu verbieten. Eines Tages haben wir gemerkt, dass die Studentenschaft – und auch die Gesellschaft – in immer kleinere Identitätsgruppen zerfällt, die nichts mehr miteinander zu tun haben wollen. Jede Gruppe fühlt sich benachteiligt, klagt ihre eigenen Missstände an, jede hat ihr eigenes Narrativ.

Geben Sie in Ihren Kursen Trigger-Warnungen, weil Sie befürchten müssen, dass Studenten mit Ihren Aussagen nicht umgehen können?

Nein, ich tue genau das Gegenteil. Zu Beginn meiner Kurse sage ich allen ehrlich und direkt: Keiner von euch hat das Recht, nicht beleidigt zu werden. Ihr könnt euch nicht auf die amerikanische Verfassung berufen, um euch unangenehmen intellektuellen Erfahrungen zu entziehen. Lernt, damit umzugehen.

Sie bleiben also gelassen?

Absolut. Die Studenten ändern sich auch – die jüngeren, so scheint mir, sind wieder härter im Nehmen. Die Bewegung der PC hat den Zenit überschritten. Amerikanische Institutionen brauchen zuweilen etwas Zeit, aber sie können sich selber korrigieren.

Stanford-Studenten erwarten nicht viel von der Politik – sie wollen die Probleme dieser Welt selbst lösen. Ist das Silicon Valley die Avantgarde auch in dem Sinne, dass es eine postpolitische Kultur des Problemlösens etabliert?

Wenn die jungen Leute nicht mehr glauben, dass irgendeine ferne Instanz – die Regierung in Washington – ihre Probleme am besten lösen kann, dann finde ich das eine gute Sache. Wir haben hier in den USA wie Sie in der Schweiz ein föderalistisches System, das nur dann gut funktioniert, wenn es auch praktiziert wird. Was wir erleben, ist meiner Meinung nach nicht der Übergang zu einer Zeit nach der Politik. Es handelt sich vielmehr um eine Veränderung der Politik – gesellschaftliche Probleme werden wieder da adressiert, wo sie auch gelöst werden können: im eigenen Bezirk, in der eigenen Gemeinde, im eigenen Bundesstaat. Im Übrigen halte ich Postpolitik für eine Illusion. Politik wird es immer geben, wenn Menschen zusammenleben. Nur schon deshalb, weil jede Form von Politik auch ihre eigenen Probleme schafft, die wiederum politisch gelöst werden müssen. Wenn dies möglichst bürgernah geschehen kann, umso besser!

Sie unterrichten hier Politikwissenschaften. Welches sind Ihre intellektuellen Helden?

Ich nenne Ihnen erst einen Namen, den Sie nicht erwarten: Alexis de Tocqueville. Er hat ein ausserordentliches Buch über die Vereinigten Staaten verfasst. Und dann liebe ich Hegel. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich als junge Studentin die «Phänomenologie des Geistes» zu lesen versuchte. Ich tat es wieder und fand, dass Hegel mit seiner Dialektik brillant zu beschreiben versteht, wie sich die menschliche Wirklichkeit tätig verändert. Und dann war natürlich James Madison ein grosser Geist. Demokratie ist, recht bedacht, ein Wunder. Dass Menschenwesen es vermögen, Abstraktionen zu vertrauen, also Verfassungen, Gerichten und Gesetzen, ist eine grossartige Entwicklung. Das ist eigentlich gegen die menschliche Natur. Wie das geht, hat Madison verstanden – und dafür bin ich ihm unendlich dankbar.

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 URL:  Created: 2018-03-26  Updated:
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