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Intelligenz braucht Finger

Über die Haptik des Schreibens und das Schicksal des Körpers im digitalen Zeitalter

Die Benutzeroberflächen der Smartphones und Tablets erfordern ein gewisses Fingerspitzengefühl. Dennoch verliert das Schreiben – und auch das Denken – im digitalen Zeitalter an «Körperlichkeit».

Eduard Kaeser, © NZZ 2012-03-24

Mensch und Schreibgerät bilden nicht nur eine Symbiose, zwischen ihnen entwickeln sich erotische Beziehungen. Robert Walser, der dank Bleistift aus einer Schreibkrise fand (die er mit einem «Schreibfederüberdruss» in Verbindung brachte), sprach von der «kraftvollen Zartheit» des Schreibens. Auch die Tastatur hat ihre haptischen bis erotischen Eigenschaften. In den 1920er Jahren beschrieb Siegfried Kracauer seine typografische Liaison mit der Schreibmaschine so: «Sie ist graziös gebaut, federleicht und blitzt im Dunkeln. Das Gestänge, das die Typen trägt, hat die Schlankheit von Flamingobeinen. [. . .] Lange Zeit hindurch wagte ich nicht, die Maschine zu benutzen. In ihrer Vollkommenheit erschien sie mir als ein höheres Wesen, das durch Missbrauch nicht geschändet werden durfte. [. . .] Nur verlegen liebkoste ich – damals in den Anfängen unserer Beziehung – ihre kühlen Teile. Die leichte Berührung schon machte mich glücklich.»

Doppelter Alphabetismus

Kracauer erwachte freilich aus dieser Romanze nach einer Reparatur seiner «Geliebten». Sein kleiner Text dokumentiert indes sehr schön, wie Schübe technologischer Entwicklung sich in unsere körperlichen Fertigkeiten einzeichnen, mehr noch: wie sie uns bis tief in die Psyche hinein prägen und ummodeln können. Damals stand mit dem Aufkommen der Schreibmaschine der Übergang von der Schreibhand zum Tippfinger im Zentrum der Debatte. – Das Schreibmaschinenzeitalter ist vom Zeitalter des word processing abgelöst worden, die hämmernde Drucktype vom elektronischen Impuls. Gewiss, wir brauchen nach wie vor Füller, Kugelschreiber, Bleistift neben dem Laptop. Bedeutet aber deshalb heute, da die Finger ohne Kraftaufwand über die Tasten hasten, dieser Griff zum alten Schreibgerät mehr als eine melancholische Gegenbewegung zur «unzarten» Dispensation der Finger vom Schreibvorgang? Macht sich vielleicht so etwas wie ein tieferes Unbehagen in der Digitalkultur bemerkbar?

Wir leben auf der Schwelle zu einem doppelten Alphabetismus, einer digitalen und einer analogen Schreib- und Lesekundigkeit. Charles Percy Snow sprach vor einem halben Jahrhundert von den zwei Kulturen der literarischen und der naturwissenschaftlichen Intelligenz; heute sprechen wir von den zwei Kulturen des Buchs und des Bildschirms. Technovisionäre wie Kevin Kelly sehen den Menschen des Buchs bereits abgelöst durch den Menschen des Bildschirms. In der für das Genre typisch überkandidelten Art träumte er 2008 in der «New York Times» von einer Welt, die nur noch aus Bildschirmen besteht. Bezeichnend ist dabei die den Fingern zugedachte Rolle: «Mit den Fingern werden wir Objekte aus Filmen ziehen und sie in unsere eigenen Filme einsetzen. Spezifische Tools werden direkt in die Displays eingebaut sein und uns helfen, spontan realistische Phantasien zu beschwören.» So würden wir, mit den Fingern über den Bildschirm streifend, eine türkisfarbene, tauglänzende, in einer schlanken rubinroten Vase balancierende Rose generieren, «so schnell, wie wir diese Wörter schreiben können, sogar schneller, wenn wir wirklich Bildschirm-schreibkundig sind. Und das ist erst der Beginn.»

Technikgeschichte liesse sich geradezu anhand unserer Finger schreiben: vom Greifen und Klammern des Werkzeugs über das Umlegen von Hebeln und Drehen von Rädern an Maschinen, das Drücken von Knöpfen und Tasten an Automaten bis zum Führen der Maus und zum flüchtigen Streifen über das sensible Touch-Pad – eine Geschichte des kontinuierlichen Rückzugs unserer Hände und Finger aus unseren Aktivitäten. Das vorläufig letzte Stadium markiert das vom Interface-Design vorgegebene Wischen, Streichen und Gleiten über eine glatte Oberfläche – ein neuer Befehlsgestus im Umgang mit dem Gerät. Kein Schalter, kein Knopf, keine Tasten; beinahe kein Druck mehr, kein Widerstand. – Keine materielle Welt?

Nur schon ein flüchtiges Nachsinnen erinnert uns daran, wie sehr unsere ganze Kultur – Kunst, Musik, Architektur – eigentlich auf Fingerfertigkeit beruht. Es mutet deshalb paradox an, wenn das digitale Zeitalter – das Zeitalter der Finger (von lateinisch «digitus», Finger) – ausgerechnet diesem Wunderwerk der Natur seine gebührende Aufmerksamkeit und Achtung versagt. Finger – so hat man den Eindruck – genügen uns noch gerade einmal, um das Eigenleben der Maschinen zu aktivieren.

Nun ist freilich der technische Fortschritt nicht linear und einsinnig. Zu seiner Dialektik gehört, dass er uns auf Fähigkeiten aufmerksam macht, die wir für durch ihn überwunden gehalten haben. Und so überrascht es auch nicht, dass sich heute gerade in der Avantgarde so etwas wie Widerstand gegen das Verschwinden der Finger regt. Bret Victor, ehemaliger Interface-Designer bei Apple, hat kürzlich seinem Ärger über die neueste «Unter-Glas-Technologie» Luft gemacht: «Unter-Glas-Displays opfern all den taktilen Reichtum in der Arbeit mit unseren Händen, indem sie uns an ihrer Stelle eine künstliche visuelle Fassade anbieten. Was ist falsch daran, das Taktile zugunsten des Visuellen zu unterdrücken? Versuche einmal, mit geschlossenen Augen deine Schuhe zu binden. Kein Problem, nicht wahr? Nun überlege dir, wie gut du die Schuhe binden kannst, wenn dein Arm eingeschlafen ist? Oder wenn die Finger gefühllos sind? Wenn wir mit unseren Händen agieren, fährt das Gefühl, und das Sehen sitzt auf dem Rücksitz. Unter-Glas-Bilder sind das Paradigma der Interaktion unter permanenter Betäubung. Eine Novocain-Injektion in unser Handgelenk. Sie versagen den Händen, was sie am besten tun können. Und dennoch sind sie die Stars in jeder Zukunftsvision.»

Vergleiche

Digitaler und analoger Alphabetismus sind keine Kontrahenten in einem Nullsummenspiel. Wichtig erschiene vielmehr eine «Komparatistik» der verschiedenen Schreibtechnologien, ein vergleichendes Studium der Art und Weise, wie uns Füller, Tastatur, Maus, Touch-Pad beim Schreiben in Anspruch nehmen. Zweifellos führt der Computer eine andere Art von Beweglichkeit ins Schreiben ein. Er erweitert das diskursive Wort-für-Wort-Setzen; er erlaubt es, ganze Textblöcke zu verschieben, er ermöglicht es, so herauszutrennen, einzufügen, zuzuspitzen, abzurunden, dass das Schreiben eher der plastischen Kunst eines Bildhauers zu gleichen beginnt, der aus Rohmaterial eine Figur herausarbeitet.

Auch unterschiedliche Aufmerksamkeiten sind festzustellen. Eine Füllfeder konzentriert uns auf den Raumzeitpunkt, an dem Tinte auf das Papier fliesst. Sie vereint Motorik und Visuelles. Im Gegensatz dazu trennt der Computer den motorischen Raum der Tastatur vom visuellen Raum des Bildschirms, so dass die Aufmerksamkeit ständig hin- und herspringen muss. Die norwegische Schreib- und Lese-Forscherin Anne Mangen – die den Ausdruck «Haptik des Schreibens» geprägt hat – weist in diesem Zusammenhang auf ein einschlägiges Desinteresse an den Schreibtechnologien hin: Weil man herkömmlicherweise solche Technologien als Hilfsmittel betrachte, übersehe man ihre eminente Rolle als Instrumente der Bildung körperlicher (und ergo geistiger) Fertigkeiten – sie sind eben, wenn sie funktionieren, «transparent», Mittel zum Zweck und nicht Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit.

Aber wollen wir das überhaupt wissen? Nun, abgesehen davon, dass Paläoanthropologie, Evolutionsbiologie, Neurologie und Kognitionspsychologie uns längst schon auf das Zusammenwirken von Hand und Hirn hinweisen, gibt es heute einen ganz banalen Grund, sich der Bedeutung dieses Zusammenwirkens bewusst zu werden. Zunehmend machen Kinder ihre erste Bekanntschaft mit dem Schreiben auf der Tastatur des Computers und nicht mit dem Schreibstift in der Hand. In den Lernlabors der Kognitionsforschung beschäftigt man sich mit der Frage, wie sich das auf das Schreib- und Leseverhalten, generell auf das Lernen auswirkt. Zum Beispiel haben Marieke Longcamp und Jean-Luc Velay in einer Reihe von Studien gezeigt, wie die «Bewegungsmelodie» des Schreibens das Lernen und das Erinnern von Buchstaben erleichtern und fördern kann. Sie trainierten Kinder drei Wochen lang im Erlernen von fünfzehn verschiedenen Grossbuchstaben. Eine erste Gruppe wurde traditionell unterrichtet, eine zweite auf elektronische Art. Die Handschreiber erkannten bei anschliessenden Tests die Buchstaben wesentlich besser als die Tastendrücker. Die Vorteile des haptischen Schreibens gelten im Übrigen für Erwachsene wie für Kinder.

Modisch angereicherte Trivialitäten, mögen sich Lehrerinnen und Lehrer sagen, die die Nöte ihrer kleinen Abc-Schützen zur Genüge kennen. Die Überlegungen machen hier jedoch noch nicht halt. Finger sind mit der Hand verbunden, die Hand mit dem Arm, der Arm mit der Schulter, die Schulter mit dem Oberkörper – und dieser mit dem ganzen Körper. Die Frage der Finger rückt in einen anthropologischen Horizont: Im Schreibverhalten äussert sich eine menschliche Verfassung. Was sich in den neuen Technologien ankündigt und bereits teilweise realisiert hat, birgt ein tieferes Problem. Man kann es als die fortschreitende Entkörperlichung unserer Intelligenz bezeichnen.

Zunehmend lassen uns neue Technologien jene Kulturtechniken als leicht und schnell verfügbar erscheinen, die wir früher mühsam und langsam unsere Körper lehren mussten – und sie nähren dadurch den Traum eines von der Last des Körpers nicht beschwerten «Posthumanismus». So ist bezeichnenderweise heute fast ausschliesslich von den Veränderungen des Gehirns durch die neuen Technologien die Rede oder vom «externen Gehirn» des Netzes, das als reine Software betrachtet wird. Aber warum eigentlich immer nur vom Gehirn? Brauchen wir den Rest des Körpers denn nicht auch zur Ausübung von Intelligenz und keinesfalls nur, um darin unser Gehirn herumzutragen, wie das einmal Thomas Alva Edison von sich sagte?

Wider die Selbstverstümmelung

In den digitalen Technologien verbirgt sich eine höchst defizitäre Anthropologie, die die Intelligenz des lebenden Körpers in seiner Offline-Umwelt kaum gebührend berücksichtigt, ja oft geradezu wie ein rezessives Merkmal betrachtet. Genau hier aber liegt die Chance, das wiederzuentdecken, was wir immer schon haben und immer schon können. Intelligenz ist haptisch, sie braucht Finger. Die Dichte der Nervenenden in unseren Fingerspitzen ist enorm gross. Ihr Unterscheidungsvermögen gleicht nahezu jenem unserer Augen. Wenn wir unsere Finger nicht gebrauchen, werden wir «fingerblind», verlieren wir unser Fingerspitzengefühl; das wäre eine Form von Selbstverstümmelung – ergo Dummheit. Man kann es auch so sagen: Die Zukunft liegt in unseren Händen. Buchstäblich.

Dr. Eduard Kaeser, Gymnasiallehrer für Physik und Philosophie an der Kantonsschule Olten, ist als freier Publizist tätig. Im letzten Jahr ist von ihm die Essaysammlung «Kopf und Hand. Von der Unteilbarkeit des Menschen» (in der Manuscriptum-Verlagsbuchhandlung) erschienen.

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 URL:  Created: 2011-03-26  Updated:
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